München:Die Versuchsstation

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Einst wurden zum Gräfelfinger Gartenareal die ersten Fernsehbilder gefunkt. Seit 20 Jahren existiert dort die "Kunstbaracke"

Von Annette Jäger

Was war das für ein Gefühl! Als die Malerin Tatjana Naaf von Sass vor genau 20 Jahren die Gelegenheit erhielt, die alte Baracke an der Steinkirchner Straße 44 bis 46 in Gräfelfing anzumieten, um Künstlerateliers einzurichten, war das "wie eine Million zu bekommen", formuliert es Schmuckdesignerin Anja Kuse, Gründungsmitglied der Ateliergemeinschaft. Fast zehn Jahre lang hatte sich Naaf von Sass beim damaligen Bundesvermögensamt beworben, um die Holzbaracke zu übernehmen. Im August 1998 wurde ihr Traum wahr. Der Mietvertrag wurde anfangs nur von Monat zu Monat verlängert. Inzwischen sind 20 Jahre vergangen, und die Künstler sind immer noch da.

Zum runden Geburtstag lädt die Gemeinschaft zu Ateliertagen ein, mit Gartenausstellung, Livemusik und Lagerfeuer, von Freitag, 4. Mai, bis Sonntag, 6. Mai.

Die Ateliertage haben Tradition in der Kunstbaracke. Jedes Jahr zeigen die Künstler einen Querschnitt ihres Schaffens. Dieses Jahr gibt es erstmals ein gemeinsames Ausstellungsthema - "Verbindung", was sehr passend erscheint. Die Arbeiten werden im verwunschenen Garten der Baracke ausgestellt. Außerdem sind neben den Atelierinhabern auch fünf Gastaussteller eingeladen, "alte, lieb gewonnene Mitbewohner", formuliert es die Künstlerin Almuth Raupp.

Tatjana Naaf von Sass. (Foto: Robert Haas)

Die Mitbewohner sind Künstler wie Kuse, Naaf von Sass, Augusta Laar oder René Greiner, die einst Mitglieder der Ateliergemeinschaft waren, inzwischen aber an anderen Orten wirken. Allein durch dieses Wiedersehen wird das Ausstellungsthema "Verbindung" mit Leben gefüllt. Das Thema lässt sich aber auf viele Arten lesen. Auch Ausstellungsbesucher und Künstler gehen eine Verbindung ein, und schließlich befassen sich die ausgestellten Werke mit dem Thema. Fotografien, Filzbilder, Malerei, Schmuck, Bildhauerei, Papierarbeiten und Installationen werden zu sehen sein.

Der runde Geburtstag ist auch ein Anlass für die Künstler, in der Vergangenheit zu forschen. Die Kunstbaracke ist ein langgezogener Bretterbau mit Sprossenfenstern in einem wild eingewachsenen, großen Garten. Gebaut wurde sie 1934. Aber schon lange davor war das Areal ein Ort schöpferischer Energie. Im Oktober 1908 pachtete der in Gräfelfing lebende Professor Max Dieckmann, nach dem auch ein Platz in Gräfelfing benannt ist, die Wiese. Dieckmann war Physiker und Hochfrequenztechniker und lehrte als Professor an der Technischen Universität in München. Dort gründete er die Drahtlostelegraphische und Luftelektrische Versuchsstation Gräfelfing (DVG) und experimentierte mit seinen Studenten. Dort gelang ihm die erste kabellose Bildübertragung: Er schickte eine Abbildung seiner Villa in der heutigen Professor-Kurt-Huber-Straße per Funk zur Versuchsstation auf der Wiese. Nicht zuletzt konstruierte Dieckmann in seinem Labor mit Hilfe der Braunschen Röhre ein Fernsehgerät, was ihn zum Pionier der Fernsehtechnik machte. Mit Ferdinand Graf von Zeppelin unternahm er Testflüge. Über Gräfelfing sollen die Zeppeline in einen Sinkflug gegangen sein, als ob sie sich verneigten.

Christine Seidel-Müller. (Foto: Robert Haas)

Während der Weltkriege wurden die Baracken - damals gab es noch ein zweite auf dem Gelände, die aber 1990 abgebrannt ist - militärisch genutzt, 1942 verkaufte Dieckmann das Grundstück. Heute ist es im Eigentum der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Die Baracken wurden seit den 1950er Jahren unterschiedlich genutzt. So kam dort viele Jahre eine Schreinerei unter. Legendär ist der Bastelbedarf Köhler, vom dem die Künstler schließlich die Baracke übernahmen. Schon als Kinder, erzählen Anja Kuse und Tatjana Naaf von Sass, hätten sie sich magisch angezogen gefühlt von der "geheimnisvollen Höhle" des Bastelbedarfs. Spanschachteln und Lederbänder gab es dort, Bast und Farben. Eine Kommode aus dem Ladenbestand mit vielen kleinen Schubladen steht heute noch in einem der Ateliers.

Es ist eine inselhafte Idylle, die sich jenseits der Straße hinter dichten Büschen verbirgt. Eine Ruheoase, die ein Abtauchen ermögliche und Ideen fließen lasse, wie die Bildhauerin Christine Seidel-Müller den Ort beschreibt. Die Nachbarschaft zu anderen Künstlerkollegen motiviere und inspiriere. Die Patina der vergangenen Jahrzehnte hat sich über den betagten Bau gelegt und verleiht ihm seinen besonderen Charme. Und so geht die Baracke selbst, analog zum Ausstellungsthema, eine Verbindung ein: Vergangenheit und Gegenwart sind in den Ateliers verwoben. Wer das spüren möchte, muss zu Besuch kommen.

Julia Herrmann. (Foto: Robert Haas)

20 Jahre Kunstbaracke, Steinkirchner Straße 44 bis 46 in Gräfelfing, Vernissage am Freitag, 4. Mai, um 19 Uhr, am Samstag und Sonntag, 5. und 6. Mai, ist von 14 bis 18 Uhr geöffnet.

© SZ vom 28.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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