Kunst kann ein Ventil sein. Für unterdrückte Ängste zum Beispiel. Warum hat man sich nur so arglos auf diese Sache hier eingelassen? Für einen Klaustrophobiker ist das der Lottogewinn: ein enger Tunnel, Modergeruch in der Nase, bis auf den Schein eines Fahrrad-Rücklichts, das sich tanzend immer weiter entfernt, kompakte Finsternis. Unbehagliches Schweigen legt sich über die Gruppe, die dem rötlichen Flackern wie hypnotisiert nachstarrt, bis es von der Finsternis verschluckt wird. Nur allzu gerne würde man jetzt das Handy als Scheinwerfer aktivieren, doch das ist untersagt. In der Stille glaubt man, das nervöse Pulsieren des eigenen Herzens zu hören. Die Finger werden kalt und klamm. Gibt es in diesen Katakomben überhaupt ausreichend Luft? Der Fluchtinstinkt steigt hoch wie Übelkeit. Soll man aufgeben und in die andere Richtung laufen, zurück ins Licht am anderen Ende des Tunnels?
Doch da, plötzlich ein Blinken im nachtschwarzen Loch vor uns. Es kommt näher. Dann ein Rascheln wie von altem Laub, lauter und lauter. Die Geräusche der Lunge eines Menschen, der rennt, verzerrt durch die diffuse Akustik der Backsteinwände. James Cunningham kehrt zurück aus dem Kanal-Labyrinth. Wie Orpheus aus der Unterwelt oder Harry Lime im "Dritten Mann". Ooops, die Klischee-Falle ist doch zugeschnappt, die banalste aller Assoziationen ausgesprochen.
Dabei hatte man sich fest vorgenommen, nicht an die Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation zu denken. Und James Cunningham, der Mann mit dem roten Fahrradlicht am Körper, sieht nicht einmal entfernt aus wie der Medikamentenschieber Orson Welles. Der Australier ist ein ruhiger, in sich gekehrter Typ. Seit Jahren erforscht er in seinen Performances das menschliche Gehen als Kunstpraktik. Er ist einer, der seinen Mitmenschen gerne entgegengeht, der Masse zuwiderläuft. Gerade waren wir Zeugen eines seiner sehr physischen Experimente, die Cunningham zusammen mit der Multimedia-Künstlerin Suzon Fuks durchgeführt hat - im stillgelegten Überlaufkanal unter dem Nordfriedhof.
"Overflow" nennen Carlotta Brunetti und Cornelia Oßwald-Hoffmann ein im wahrsten Sinne des Wortes sehr ausuferndes, städtisches Kunstprojekt, das sich in den November hinein ziehen wird. "Insgesamt geht es um alles, was übrig ist, um alle, die übrig sind, um alles, was aus dem Ruder läuft oder überläuft. Und es geht um das kreative Potenzial, das in diesen Resten schlummert", sagt Kuratorin Oßwald-Hoffmann. Dem Experiment-Charakter folgend, wird "Overflow" noch an weitere ungewöhnliche Erfahrungsorte führen, ins Müller'sche Volksbad etwa oder ins Referat für Arbeit und Wirtschaft. An dieser "Feldforschung" im sozialen, technischen und ökonomischen Überlaufbecken der Millionenstadt sind sechs Stipendiatinnen und Stipendiaten der Villa Waldberta beteiligt, aber auch lokale Künstler wie Carlotta Brunetti, Birthe Blauth oder Christoph Nicolaus.
"Bitte warme Kleidung mitbringen" lautete der freundliche Hinweis für die Besucher, die an der ersten Overflow-Station Ende Juli auf dem Parkplatz am Nordfriedhof den Einstieg in die Tiefe wagen. Auf der Treppe geht es vorbei an einer Kiste mit unverdautem Zivilisationsmüll, der einst aus dem Abwasser gefischt wurde, heute bereits museal ist und Archäologen ferner Epochen viel über uns erzählen würde: prähistorische Mobiltelefone aus den Neunzigern, Digital-Armbanduhren, Gabeln, Löffel, ein Gebiss (Unterkiefer).
Unten angekommen in der kühlen Tiefe des Pettenkoferschen Klinkergewölbes müssen sich Augen und Ohren erst akklimatisieren: luziferische Lichtnester, goldenes Glimmen an alten Backsteinwänden, Schattenspiele wie in Platos Höhlengleichnis, Wasser- und Wortplätschern, Tropfsteinhöhlen-Klänge, die sich verflüssigen. In dieser unstillen Kulisse sitzt Christoph Nicolaus, ganz in Weiß gekleidet, in der Senke des Kanals und streicht mit unendlich sachten Bewegungen seine Steinharfe. Eine feierliche Präsenz geht von ihm aus, die hohen Töne seines Instruments durchdringen alles, Trommelfelle, Organe, die Tunnelgänge. Man stellt sich vor, wie sich die Schallwellen, dem feuchten Rinnsal am Kanalboden folgend, in den Adern dieses unheimlichen Systems ausdehnen, dessen Dimensionen die Besucher in der Geh-Performance von James Cunningham und Suzon Fuks noch nicht mal ansatzweise begreifen konnten.
Aufwühlende Klangerfahrungen schenkten auch die Video-Sound-Installationen von Carlotta Brunetti und Jarek Lustych. Der polnische Land-Art-Künstler hat aus Dosen ein simples, geniales Saiten-Instrument entwickelt, mit dem er per Mini-Lautsprecher fließendes Wasser von Isar, Loisach oder Lech hörbar machen kann. Das klingt dann, so stellt man es sich zumindest vor, wie ein dumpfer Chor klagender Wassermänner. Brunetti ist ebenfalls fasziniert von Flüssen. Seit 25 Jahren sammelt die gebürtige Mailänderin deren Farben und Töne, die sie für Overflow auf eine transluzide Papierwolke projiziert hat. Der Fluss im Kanal, der Kanal im Fluss.
Eine sehr sinnliche Erfahrung mit dem (Über)-Flüssigen wird auch Overflow, Teil 2, am Donnerstag, 3. August, im Müller'schen Volksbad zu erleben mit einer regulären Eintrittskarte zu 4,50 Euro ohne Zeitbeschränkung von 12 bis 22.15 Uhr. Carlotta Brunetti etwa wird auf die Wasseroberfläche des großen Volksbadbeckens ihr Video "Fischzucht" beamen. Die Badegäste teilen sich dort dann mit Fischen und Fischrogen vom Starnberger See das Element. "Kunst-Geher" James Cunningham zeigt in der Rotunde am Ende des großen Beckens einen 150-minütigen Loop von einem sehr langsamen Spaziergang durch den Starzenbach in Feldafing. Bei seinem minutiösen Walk mit der Wasserströmung trug der Australier eine Kopfkamera, die alle fünf Sekunden ein Bild aufnahm.
Auch Jarek Lustych ist im Volksbad wieder mit seiner Wassermusik dabei, er bespielt drei Umkleidekabinen. Suzon Fuks wird, ganz in Blau gekleidet und mit blauen Haaren auf dem Kopf, durch das Bad wandern. Zehn Stunden lang will sie dabei das Lied vom "Tröpferlbad" summen und den Besuchern mit einer Pipette Wassertropfen auf die Hände verteilen. Zudem projiziert sie auf eine Deckenkuppel im Saunabereich ein Video, das einen Pool mit "geheiligtem Wasser" im indonesischen Yogyakarta zeigt. Wer selbst noch keine Schwimmhäute entwickelt hat an diesem langen Kunst-Tag im Volksbad, kann sich dann von Christoph Nicolaus und seiner Partnerin, der ägyptischen Künstlerin Rasha Ragab, an den Nil und in einer Badewanne auf das Dach eines Kairoer Hauses entführen lassen.
Mehr Informationen zum Overflow-Kunstprojekt gibt es unter www.villa-waldberta.de.