München:Der Sog des Grases

München, Ausstellung in der Galerie an der Pinakothe der Moderne von Heng Li

Weiter Blick: Heng Li ist ein sensibler, künstlerischer Freigeist, der sich in seinen Graspanoramen, gelegentlich mit einem Totenkopf, auf spirituelle Suche begibt.

(Foto: Angelika Bardehle)

Der Künstler Heng Li erzielt mit seinen Kompositionen aus Landschaft, Licht und Horizont eine existenziell berührende Wirkung. Der 38-Jährige, dessen Bilder nun in der "Galerie an der Pinakothek der Moderne" zu sehen sind, hat auch eine bewegte Geschichte

Von Udo Watter

Manche der Bildkompositionen sind wie ein Tiefenrausch für die Augen: Gräser, Horizont und Licht entwickeln einen starken Sog. Der Wind scheint aus verschiedenen Richtungen zu wehen, die dunkle, leere Wildnis ist teils magisch illuminiert, der Himmel ist mal hoch, mal tief, mal wirkt der Horizont schief. Der Betrachter kann sich in den Bildern von Heng Li verlieren, einem optischen Schwindel erliegen, mitunter fliegen einem die Gräser aber auch zu. Was bleibt, ist die Ahnung einer erhabenen Abgründigkeit.

Seit zehn Jahren ist Gras das künstlerische Leitmotiv des 1979 im nordchinesischen Urumqi, Xinjiang, geborenen Künstlers Heng Li, dessen neueste Werke derzeit in der Galerie an der Pinakothek der Moderne zu sehen sind. Im Herbst 2007, als er sich aufgrund privater wie künstlerisch-beruflicher Krisen in einem seelisch fragilen Zustand befand, erweckte ein eigentlich unspektakulärer Anblick Heng Lis besonderes Gespür für Gras. Der Chinese, der damals an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studierte, sah einen weißen Campingstuhl im Hinterhof-Garten einer Kirche, der vor der untergehenden Sonne einen Schatten warf. Die Traurigkeit war plötzlich verschwunden, er wusste, er hatte sein Sujet gefunden. "Für mich ist es wichtig, Emotionen und Leidenschaft in Bilder zu übersetzen, in einer magischen Sprache, und Gras wurde zur geeigneten Form dafür", sagt Li, der seit 2010 als freischaffender Künstler im Raum München lebt und arbeitet und bis 2016 in Haar wohnte.

Der 38-Jährige brauchte noch ein halbes Jahr, um einen Weg zu finden, diese Verwandlung befriedigend umzusetzen, aber seither ist Heng Li dem Geist des Grases in allen möglichen Varianten auf der Spur: mit Kratz-, Schab- und auch Wischtechniken, für die er die Wand seines Münchner Ateliers im Domagk-Atelierhaus nutzt. Für die einzelnen Gräser verwendet er diverse Skalpelle, manchmal sogar Schneebesen. Jedes Gras gestaltet der in chinesischer Kalligrafie geschulte Heng Li anders. Seine Bilder, Öl oder Öl und Acryl auf Leinwand, sind nicht zuletzt durch feine Perspektivverschiebungen und Licht-/Schattenspiele geprägt.

Was seinen Erfolg an der Akademie und vor allem seine Resonanz beim Publikum angeht, erwies sich die Motivwahl "Gras" als glückliche. Unter anderem gewann er 2013 den ersten Publikumspreis der Truderinger Kunsttage sowie den ersten Publikumspreis der Kunstmesse Regensburg. Weitere Auszeichnungen folgten, dazu kamen Solo-Ausstellungen in Deutschland, aber auch in seinem Geburtsland China.

Heng Li ist eine leise, freundliche Erscheinung, ein sensibler Künstler, der ein besonderes Sensorium für die fragilen Seiten der Welt zu haben scheint. Schon im Alter von fünf Jahren hat er mit dem Malen begonnen, wurde in Kalligrafie ausgebildet und studierte von 1996 bis 1998 an der Mittelschule der zentralen Akademie der Bildenden Künste in Peking. Dass ihn dann sein Lebensweg nach Westen führte, war einer dramatischen amourösen Episode geschuldet. Eine Liebschaft mit einem Mädchen, dessen bisheriger Freund im organisierten Verbrechen tätig war, endete damit, dass Heng Li, wie er erzählt, aus Angst um sein Leben und das seiner Familie das Land verließ. Als 19-Jähriger ging er nach Russland, studierte zwei Jahre Malerei in Sankt Petersburg. Sein Interesse für moderne, zeitgenössische Kunst führte ihn bald nach Deutschland, wo ihm der Einstieg indes schwer fiel. Zu Sprachschwierigkeiten kam hinzu, dass der junge, empfindsame Freigeist Heng Li Probleme mit den strengen kunsttheoretischen Vorgaben seiner Professoren hatte. Ottmar Hörl, Präsident der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, fand dann Zugang zu ihm und half seiner Entwicklung. "Ihm verdanke ich viel", sagt Li. 2008 entstanden die ersten Bilder von Graslandschaften, die bald Resonanz fanden.

Den Künstler, der 2016 von Haar nach Trudering umgezogen ist, füllt freilich beruflicher Erfolg allein nicht aus, er ist immer auch ein Suchender. Dass in seinen Gras-Szenerien die eigene spirituelle Welt widerhallt und mitschwingt, ist Lis wesentliche Triebfeder. Wenn die eigenen Gefühle im Bild authentisch werden, wird es quasi zum Portal der inneren Freiheit. Doch mitunter schien ihm genau das wieder verschlossen. Ein Künstler wie Heng Li, der in gewisser Weise im ästhetischen Zustand lebt, ist immer auch besonders gefährdet.

Im Jahr 2013 entzog sich ihm zunehmend die Fähigkeit, sich in seinen Bildern angemessen auszudrücken, er wurde immer verzweifelter. "Ich suche und suche und suche und habe es nicht mehr gefunden", erinnert er sich. Schließlich stellt ihn ein Bild endlich zufrieden - er ist glücklich. Der Zustand der Euphorie steigert sich bei einer Party, Heng Li trinkt viel und geht schließlich beschwingt nach Hause. In seiner Wohnung am Jagdfeldring in Haar sitzt er auf dem Balkon, siebter Stock, Zigarette im Mund. Er imaginiert eines seiner Bilder, die Graslandschaft, der Horizont entwickeln einen Sog - dem er erliegt. Er lässt sich fallen. Erst in Gedanken, dann in Wirklichkeit. "Ich hatte keine Angst", sagt er. "Der Wind, der von unten kam, den empfand ich als bequem." Heng Li lächelt, wenn er das erzählt. "Es hat sehr lange gedauert. Ich habe mir gedacht, wann bin ich unten?" Suizidale Gründe spielten keine Rolle, betont er. Flapsig gesagt: Heng Li wollte nicht ins Gras beißen, um der Seele des Grases näherzukommen. Es war wohl eher das spontane Nachgeben gegenüber einem mächtigen Impuls, ein Sich-Fallen-Lassen aus Intensitätshunger, befeuert durch Alkohol und Euphorie.

Heng Li überlebte mit Rippen- und Knochenbrüchen. Eine längere Therapie folgte, heute spürt er nur noch selten ein paar Nachwehen. Er malt weiter seine Graslandschaften (mitunter sogar andere Sujets), in jüngerer Zeit sind sie weniger düster, und es gibt auch Kompositionen mit Objekten: In "Das Fest" fliegt ein kleiner, roter Luftballon durch den Himmel. Auch wenn der ein wenig verloren wirkt, ist er ein Zeichen der Hoffnung ("Rot ist in China eine glückliche Farbe"). Ein anderes Bild zeigt einen Totenkopf im Grasmeer. "Der Tod ist die einzige Wahrheit. Die Ewigkeit", sagt Heng Li. Dennoch kein Grund, ihm zu früh zu begegnen, für Heng Li zählt Leben und Leidenschaft im Jetzt: "Ich male zwar Gras, aber ich denke dabei immer an die Menschen und die Menschlichkeit."

Die Ausstellung mit Werken von Heng Li in der "Galerie an der Pinakothek der Moderne", Gabelsbergerstraße 7, ist noch bis 25. Juni zu sehen.

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