Nach dem Mauerfall:"Die Leute sind durchs Fenster in Waggons geklettert, um nach München zu kommen"

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Anstehen fürs Begrüßungsgeld: Fast 7000 DDR-Bürgerinnen und Bürger zählte man 1989 allein am 11. und 12. November in der Stadt. (Foto: SZ Photo/Karl-Heinz Egginger)

Im Herbst 1989 reisten Tausende DDR-Bürger nach München, jeder von ihnen bekam 40 Mark kommunales Begrüßungsgeld - bis Oberbürgermeister Georg Kronawitter es am 15. Dezember über Nacht abschaffte.

Von Wolfgang Görl

Am 15. Dezember 1989, einem Freitag, sah es so aus, als wären sämtliche Bürger der DDR, die soeben errungene Reisefreiheit nutzend, nach München gekommen. De facto herrschte der Ausnahmezustand, und das Chaos und der Trubel waren so heftig, dass der Autor des SZ-Streiflichts sich seinerzeit genötigt sah, einen drastischen Vergleich zu wählen: "Zwischen 60 000 und 70 000 Besucher aus der DDR strömten in dichten Scharen herein und deklassierten die Völkerwanderungszüge der Germanen-Stämme zu mittelständischen Betriebsausflügen." Nun ja, das war ein wenig übertrieben, Satire halt, aber ganz ohne Übertreibung darf man sagen: Noch nie in der Geschichte Münchens waren so viele Sachsen, Thüringer, Mecklenburger, Berliner und Brandenburger gleichzeitig in der Stadt. Und sie bekamen auch noch Geld geschenkt: 40 Mark vom Freistaat und, wenn sie früh genug dran waren, 50 Mark aus der städtischen Kasse.

In den ersten Wochen nach dem Fall der Mauer am 9. November waren es vor allem die grenznahen Gemeinden und Städte der Bundesrepublik, in denen sich die Menschen aus der DDR umsahen. Sie erhielten ein staatliches Begrüßungsgeld in Höhe von 100 Mark, mit dem sie, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb, "die Läden leer kauften". Eine Woche nach dem Mauerfall war "der Autostau in der DDR vor dem Grenzübergang bei Hof mehr als 60 Kilometer lang". Die Bahn setzte knapp 30 zusätzliche Schnellzüge ein, die täglich zwischen der DDR und der Bundesrepublik verkehrten.

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Aber auch München war am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung Ziel vieler Menschen aus Ostdeutschland. Etwa 7000 Besucher, die meist mit der Bahn oder im Trabbi gekommen waren, zählte man am 11. und 12. November in der Stadt. Vor den sechs Schaltern des Postamts am Hauptbahnhof bildete sich eine lange Schlange von DDR-Bürgern, die ihr Begrüßungsgeld abholen wollten. Weil die Post auf den Ansturm nicht vorbereitet war, ging bald das Geld aus. Der Versuch, städtische Kassen anzuzapfen, scheiterte, weil diese fürs Wochenende mit Zeitschaltuhren verriegelt waren. Wie Maria Knauer, damals Leiterin des städtischen Sozialamtes, Jahre später erzählte, bat man die Kaufhäuser, ihre Samstagseinnahmen umgehend auf Postkonten einzuzahlen. Dieses Geld erhielten die Besucher aus der dem Untergang geweihten Deutschen Demokratischen Republik.

Allerdings hatten die Menschen aus Leipzig, Halle oder Ostberlin oft gar nicht die Zeit, das Geld auszugeben. Damals schlossen die Läden samstags um 14 Uhr, und nicht jeder war so zeitig dran, wie eine junge Gabelstaplerfahrerin aus Dresden, die eingekauft hatte, "was es bei uns nicht gab": eine Jeans, drei Paar Netzstrümpfe, fünf Slips. Zwar hatte das bayerische Innenministerium kurzfristig die Ladenschlusszeiten aufgehoben, doch davon machten die wenigsten Geschäfte Gebrauch. Gegen die verlängerten Öffnungszeiten wehrten sich zudem die Gewerkschaften und Betriebsräte.

In den folgenden Wochen wuchs die Zahl der München-Besucher aus der DDR stetig, zumal allen, die beim ersten Besuch die obligatorischen 100 Mark aus Bundesmitteln erhalten hatten, ein "Zweitbesuchergeld" ausgezahlt wurde - eben jene 50 Mark aus der Stadt - sowie 40 Mark aus der Freistaatskasse. Weil jedem DDR-Bürger das Geld zustand, lag es nahe, möglichst mit der ganzen Verwandtschaft, inklusive Kleinkindern, anzureisen. Dazu gab es kostenlosen Eintritt in die Museen und verbilligte Eintrittskarten für Theater, Konzerte und Fußballspiele. Münchner Bürger stellten Betten zur Verfügung, auch Hotels und der Kreisjugendring spendierten Schlafplätze. Eine junge Frau aus Sachsen, so berichtete damals der SZ-Reporter, konnte es kaum fassen: "Meine Herren, seid ihr großzügig."

"Was soll's, 40 West-Mark sind für uns auch 'ne Stange Geld"

Mitte Dezember brachen die Dämme. Oberbürgermeister Georg Kronawitter war mittlerweile klar, dass das kommunale Begrüßungsgeld auf Dauer ruinös sein würde, zumal es auf die DDR-Bürger wie ein Magnet wirkte. Doch der Versuch, den Stadtrat zu einem Stopp der Zahlungen zu bewegen, war an der sogenannten Gestaltungsmehrheit aus CSU, FDP und Unabhängigen Sozialen Demokraten (USD) gescheitert. Schließlich zog Kronawitter die Notbremse und machte dem Zweitbesuchergeld per Dringlichkeitsanordnung ein Ende. Pech für jene, die erst am 16. Dezember in München eintrafen.

Sie erhielten nur noch die 40 Mark vom Freistaat, den Münchner Fünfziger mussten sie abschreiben - anders als ihre Landsleute, die einen Tag früher in die bayerischen Landeshauptstadt gekommen waren. Die hatten noch einmal im großen Stil eingekauft, sofern das mit 90 Mark möglich war. Was sich danach im Sonderzug nach Leipzig abspielte, beschrieb der SZ-Reporter so: "Sie haben den Zug durch die Fenster geentert, haben dann die Pakete mit Doppel-Casetten-Radiorecordern, Bananen und Plastik-Christbäumen hochgewuchtet, während sich die anderen mit den Polizisten an den Zugtüren rangelten."

Eine Familie aus Dresden, die von Kronawitters Notbremse zu spät erfahren hatte, berichtete von chaotischen Szenen bei der Anfahrt: "Die Leute sind durchs Fenster in Waggons geklettert, um nach München zu kommen." Als am Bahnhof von Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt, per Lautsprecher durchgesagt wurde, dass München kein Begrüßungsgeld mehr zahlt, seien viele wieder ausgestiegen. Die meisten aber blieben im Zug, sei es, weil sie endlich mal München sehen wollten, sei es, um wenigstens die 40 Mark des Freistaats abzuholen. Zumindest einer der Reisenden wusste sich zu trösten: "Was soll's, 40 West-Mark sind für uns auch 'ne Stange Geld."

Am 20. Dezember zog die Stadt eine Bilanz der vergangenen fünf Wochen. Rund 8,4 Millionen Mark an kommunalem Zweitbesuchergeld hatte man an die Besucher aus der DDR ausbezahlt. Allein in der Zeit zwischen dem 11. und 17. Dezember hatten 135 000 DDR-Bürger eine Fahrt nach München unternommen. Nein, in Wirklichkeit waren es wohl mehr, denn einige gab es vielleicht doch, die auf das Begrüßungsgeld verzichteten. Es war eine Zeit, in der Trabbis auf den städtischen Straßen so häufig waren wie heute SUV's. Eine aufregende Zeit - aber kurz.

© SZ vom 14.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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