Verschobenes Kultur-Festival:"Tollwood ist eben Tollwood"

Tollwood Gelände Olympiapark

Wegen des Coronavirus liegt das Tollwood-Gelände im Olympiapark in diesem Sommer verlassen da.

(Foto: Robert Haas)

Am Mittwoch wäre das Festival gestartet - mit 500 Veranstaltungen und Hunderttausenden Besuchern. Nun bleibt nur die Hoffnung auf den Winter.

Von Michael Zirnstein

Würde Tollwood am heutigen Mittwoch wie geplant öffnen, wäre Adam Stubley schon mehr oder weniger fertig damit. Er käme wohl nur noch an ein paar ruhigen Vormittagen aus Türkenfeld herüber, um zu schauen, wie es seinen Schätzen so geht. Niemand hat das Bild von Tollwood so geprägt wie der Künstler mit seinen monumentalen Skulpturen. In zwölf Jahren hat er 20 Sommer- und Winterfestivals ausstaffiert, vieles blieb erhalten. Seinen viel bestaunten und fotografierten Looping aus 200 Einkaufswagen wieder aufzustellen, das hätte er sich allerdings nicht noch einmal angetan.

Denkt der Engländer an Tollwood, sieht er eine Baustelle vor sich, halb fertige Zelte und Buden, Bagger, viel Schotter, und mittendrin er selbst mit seinen zehn Mann aus Portugal, Ungarn, Spanien, Slowenien und München. Sein Team gehe ihm sehr ab, sagt er, "jetzt sind sie arbeitslos, wie ich". Zusammen hätten sie eine riesige Sanduhr montiert, in der Weltkugeln hinabrieseln. Die verrinnende Zeit sollte dies symbolisieren, passend zum Motto: "entschleunigt". Er hätte auch einen Entschleunigungs-Pavillon bauen sollen. "Einen Rückzugsort zum Runterkommen, zum Rauskommen aus den Menschenmassen, hinterhofmäßig", erklärt Stubley. Die verbindende Idee für Sommer-Tollwood 2020 sei prophetisch gewesen angesichts des Mitte März beginnenden Stillstands. Als Stubley von der Absage hörte, setzte er sich zusammen mit seiner Tochter an die Nähmaschine und bastelte Masken für das ganze Team.

Joanna Hölcke ist seit acht Jahren dabei, als theateraffine Praktikantin fing sie bei Tollwood an. 2020 wäre ihr Jahr geworden. Im April hat die 33-Jährige ihre Chefin Bianca Schmitz als künstlerische Leiterin beerbt und im Zuge einer Umstrukturierung auch Theaterleiter Markus Wörl. Sie hätte "nicht alles umkrempeln", aber "schon eigene Akzente setzen wollen". Sie hätte sich "das alles schon anders vorgestellt", sagt sie. Natürlich steht sie voll hinter der Absage vom 20. April, in der es hieß, Tollwood sei seit jeher ein "Ort der Begegnung und des Miteinanders - aber gerade diese Form des Zusammenkommens ist in der Corona-Krise eine Gefahr für die Menschen, und dass die Gesellschaft nun zusammenhalte, mache einen wichtigen Teil der Festivalkultur aus". "Tollwood ist eben Tollwood", sagt Hölcke. Dazu gehört für sie, dass man zu seinen Künstlern stehe. "Wir versuchen, so viel wie möglich vom Programm in den nächsten Sommer hinüberzuretten."

Für die meisten Konzerte wie von Sting oder Sido sind schon Ersatztermine fix, aber ob es dann eine geschlossene Musikarena für 5000 Gäste geben wird - man muss abwarten. 500 Veranstaltungen wären es im Sommer 2020 wieder geworden, davon vier besonders spektakuläre auf dem Freigelände: eine Parade riesiger roter Gitarren zu klassischer Musik; eine neue Truppe deutscher und belgischer Artisten, die so puristisch wie schlau mit Holzkisten geturnt hätte; eine Zirkus-Kompanie, die mittels Maiskörnern interaktiv mit dem Publikum herausarbeiten wollte, was unser aller gemeinsame Basis ist; und eine Weltpremiere: die Kinokuppel des Münchners Philipp Frank, in der sich die Gäste liegend von 360-Grad-Projektionen auf eine meditative Reise ins Ich hätten begeben können. Auch Joanna Hölcke wäre darauf gespannt gewesen - jetzt geht sie am geplatzten Eröffnungstag ins Gärtnerplatztheater. "Man muss in diesem Sommer die Kollegen unterstützen", sagt sie.

Die Corona-Pandemie hat auch Niko Strnad getroffen. Die ersten Wochen hat sich die Veranstalterin von Bang Bang Concerts "wie unter Wasser" gefühlt. Dann erst raffte sie sich auf, etwas zu tun, für andere und für sich. Seitdem stemmt sie zusammen mit der Neuhauser Kneipe Kult9 eine Internet-Konzertreihe für strauchelnde Lokale. Mit dem ersten Konzert spielten Los Sopranos drei Monatsmieten für die Einlagerung von Strnads "Fassbar" ein, ihrem Outdoor-Musikpub auf Tollwood - ein verwirklichter Lebenstraum. Diesen Sommer wollte sie alles noch wetterfester machen, denn die Gäste kämen ja selbst bei Regen zu den geplanten Konzerten von Dr. Will oder Muddy What. Nicht nur darum liebt sie das Festival. Mit 18 arbeitete sie hier in der Schweinebuchtbar, und als Kind bereits kam sie zu Konzerten ins Andechser Zelt. Umso mehr fühlt sie sich geehrt, jetzt hier selbst Gastronomin und Veranstalterin sein zu dürfen, im Sommer mit der Fassbar, im Winter mit dem Hexenkessel.

Die Chancen stehen gut, dass es im Advent auf der Theresienwiese weitergeht. Allerdings mit einem völlig neuen Festival-Format, sagt Tollwood-Sprecherin Christiane Stenzel. Man habe wegen des Virus sogar diskutiert, ganz auf Zelte zu verzichten. Momentan plant man ein kleineres Festival mit größeren Abständen und strengen Hygieneregeln, weiter bei freiem Eintritt zwar, aber mit Einlasskontrollen.

Stephanie Steppich hofft sehr, dass sie ihren Stand wenigstens im Winter aufsperren kann - der ist die beste Reklame für ihre Atelier-Boutique im Westend. Sie ist eine von 220 Kunsthandwerkern auf Tollwood. Heuer hätte sie Zehnjähriges mit "Ware Freude" gefeiert, ihrer Manufaktur für Dekoratives. Ihre T-Shirts mit Zitronen-Motiv "wären der Renner geworden", schätzt sie. Aber abgesehen vom Umsatz vermisst sie den Austausch. Gerade mit jenen Stammkunden aus Österreich, die jedes Jahr vor dem Dieter-Thomas-Kuhn-Auftritt vorbeigeschaut hätten, um zu erzählen, was das Jahr über losgewesen war.

Sommer 2020 ohne Münchner Tollwood-Festival

Ziemlich voll wäre es bei diesem Wetter wohl zum Start des Tollwood-Festivals geworden.

(Foto: Stephan Jansen/dpa)

Tollwood, das sind seine Menschen, auch die, die am Rande damit zu tun haben. Wie die Rikschafahrer. Es ist ein Stamm von etwa 100 recht bunten Gestalten, mit eigenem Kodex und Ritualen, aber irgendwie auch verbandelt mit den 50 Gastro-Standlern, deren geheime nächtliche Feste sie besuchen, und bei denen sie oft nach der letzten Fuhre die Reste für ein gemeinsames Essen aufkaufen. Weil heuer auch die Wiesn ausfällt, fehlt das Geld, den Winter zu überstehen. Einer von ihnen, Mito The Flying Monkey, hat sein geliebtes Gefährt mitsamt Lichterketten gerade für 1300 Euro inseriert, er sattelt um auf Akrobatik- und Yoga-Lehrer. Dabei schwärmt er noch vom Abenteuer Rikschafahrt, kuschelnden Pärchen oder fußlahmen Familien mit bockigen Kindern. Zusammen mit ihnen hat er auch das bunte Fest in die Stadt hinausgekarrt.

Zumindest am Königsplatz wird am 14. und 15. Juli ein kleines Stück Tollwood zu sehen sein. Der "Menschen"-Schriftzug von Adam Stubley. Die Jugend-Geschichtenwerkstatt Sommer-Dok hat ihn gebeten, sie dort aufzustellen. Ansonsten sei wenig los, sagt Stubley, mit den Plänen fürs Winterfestival - "es wird ein cooles Leuchtsymbol, ein kugelförmiges Ding" - sei er schon recht weit. "Also, ich hätte Kapazitäten frei, wenn jemand was braucht."

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