Süddeutsche Zeitung

Münchner Norden:"Corona hat hochgespült, was wir schon vorher wussten"

Im Münchner Norden leben viele Kinder und Jugendliche in armen Familien. Ihnen fehlt zum Lernen viel mehr als ein Tablet.

Von Lea Kramer, Milbertshofen-Am Hart

Wenn Klaus Petri hinter seinem Schreibtisch sitzt, blickt er in einen 29 Quadratmeter großen Raum. Es ist kein besonders großes Büro, aber auch keine Abstellkammer. Offenkundig bedrückt ihn der Blick durch das Zimmer. Petri ist Leiter der Mittelschule an der Schleißheimer Straße, schon vor den ersten Schulschließungen im März 2020 war er über die Schulpolitik verärgert. "Corona hat hochgespült, was wir schon vorher wussten", sagt er, "die Schere zwischen arm und reich - bildungsnah und bildungsfern - geht immer weiter auseinander".

Seit Mitte Dezember lernt ein Großteil der Schüler von zu Hause aus. Die Belastung durch den Fernunterricht spüren alle Familien, aber besonders die, in denen weder Platz noch Geld da ist. Mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist arm oder von Armut bedroht. Das ist das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Sommer, die bundesweit sowohl die Armutsgefährdungsquote als auch die Zahl der Kinder in Grundsicherung analysiert hat. Während die Zahl der Erwachsenen, die Hartz IV erhalten, in den vergangenen zehn Jahren stetig gefallen ist, sind mit knapp zwei Millionen immer noch genauso viele Kinder wie früher auf Sozialhilfe angewiesen.

In München wachsen 22 000 Kinder in Armut auf. Diese Zahl stammt aus dem Münchner Armutsbericht 2017, neuere Auswertungen gibt es nicht. Das Jobcenter hat im Oktober 21 219 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren registriert, die Sozialhilfe bekamen. Doch nicht jeder, dem das Geld nicht zum Leben reicht, beantragt Sozialhilfe. "Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist", sagt ein Mitarbeiter der Stabstelle Armutsbekämpfung. Es ist schwierig, die Daten auf einzelne Viertel herunterzubrechen, schlicht, weil sie nicht so kleinteilig ausgewertet werden. Fest steht: Der Münchner Norden taucht in den Monitorings des Sozialreferats regelmäßig als eines der am stärksten von Armut betroffenen Gebiete auf. Die jüngste Statistik von 2018 weist im Bezirk Milbertshofen-Am Hart die Nordhaide sowie den Harthof als Stadtteile aus, in denen besonders viele Menschen mit wenig Geld auskommen müssen. Als arm gilt eine vierköpfige Familie in München, wenn sie weniger als 2835 Euro monatlich zur Verfügung hat.

Durch Kurzarbeit oder Jobverluste während der Coronakrise hat sich die Lage bei Vielen verschlechtert. Der Fernunterricht setzt sozial schwache Familien zusätzlich unter Druck. Öffentlich darüber sprechen will kaum jemand. Wer stellt sich schon gerne freiwillig an den Rand der Gesellschaft? Dabei ist dieser Rand im reichen München gleich breit wie in anderen Großstädten. 269 000 Münchner gelten als arm, das heißt jeder sechste. Für sie sprechen vor allem Wohlfahrtsverbände und private Initiativen. Sie warnen vor den Folgen der Pandemie. In Petra Windisch de Lates Büro schaut es noch weihnachtlich aus, überall stapeln sich Geschenke. "Der Lockdown hat uns komplett erwischt", erzählt sie am Telefon.

Ihr Verein Deutsche Lebensbrücke finanziert Frühstücksklubs an Grundschulen im Hasenbergl und im Harthof. Vor der Pandemie kamen dort bis zu 90 Schüler vorbei, um mit einer Mahlzeit im Magen in den Tag zu starten. "Wegen der Hygienemaßnahmen haben wir Brotzeittüten gepackt. Seit die Kinder im Fernunterricht sind, haben wir damit aufgehört", sagt sie. Für das digitale Lernen hatten die Helfer ebenfalls Ideen. "Eine unserer Schulen hat 40 Tablets bestellt, aber nur elf wurden geliefert", sagt Windisch de Lates. Der Verein habe die fehlenden Geräte besorgt und sie gemeinsam mit den Kindern einrichten wollen. Wegen der Schulschließungen fiel das aus.

"Das Schulsystem stützt sich darauf, dass Eltern mit Kindern lernen und üben", sagt Andrea Taschner, Rektorin der Balthasar-Neumann-Realschule an der Hugo-Wolf-Straße im Harthof. Die Kinder, deren Eltern etwa aufgrund von Sprachbarrieren nicht helfen könnten, würden abgehängt. Ihre Lehrer wenigstens sehen zu können würde ihnen helfen. Da viele Internetleitungen zu schwach seien, finde der Unterricht aber überwiegend ohne Video statt. "Das macht es langatmiger und vor allem langweiliger", sagt sie, "das Zwischenmenschliche, das soziale Lernen, fällt weg."

Mit dieser Sorge ist Taschner nicht allein. Der Bezirksausschuss Milbertshofen-Am Hart hatte zu Jahresbeginn bei den Schulleitern abgefragt, ob sie ausreichend mit mobilen Endgeräten ausgestattet sind. Der Mangel sei zwar ein Problem, sagt Christina Hörl (SPD), Sprecherin des Unterausschusses Soziales und Bildung, "aber das ganze Drama mit dem Homeschooling ist noch größer." Obwohl die Stadt München bedürftigen Schülern leihweise Geräte zur Verfügung stellt, hätten zahlreiche Eltern das Angebot abgelehnt. "Die Verträge waren juristisch formuliert", sagt Hörl, "die Unterlagen haben einige einfach nicht verstanden." Zudem hätten sie Angst vor hohen Kosten gehabt, falls die Technik kaputt geht.

Die Stadt hat bislang 8200 Leihgeräte an Schulen ausgegeben, teils inklusive Sim-Karte für eine Internetverbindung. Mehrere Tausend Geräte seien an den Schulen bereits da gewesen, sagt ein Sprecher des Referats für Bildung und Sport (RBS). 9000 weitere Laptops und Tablets sollen demnach "schnellstmöglich" beschafft werden - offenbar gibt es Lieferschwierigkeiten. Es werde zudem daran gearbeitet, Leihverträge in leicht verständlicher Sprache zu verfassen, so das RBS. Außerdem hat die Stadt Schulungsmaterial und Erklärvideos für Lehrer und Schüler auf einer Plattform zusammengestellt.

Während die bayerische Kultusstaatssekretärin Anna Stolz (Freie Wähler) für einen Pressetermin am Fernunterricht teilnimmt, geht Klaus Petri von der Mittelschule an der Schleißheimer Straße eine Umfrage durch, die seine Schule nach dem ersten Lockdown veranlasst hat. Stolz wird später betonen, wie gut Bayerns Schüler digitalen Unterricht könnten. Petri berichtet von den Wohnverhältnissen. 38 seiner 376 Schüler hatten in der Umfrage angegeben, in einer Einzimmerwohnung zu leben. Nachforschungen der Schulsozialarbeiter ergaben: Mehrere Kinder wohnen mit Geschwistern und Eltern auf gerade einmal 25 Quadratmetern.

Wie etwa die Hälfte ihrer Mitschüler haben sie weder einen Schreibtisch geschweige denn ein Kinderzimmer. Die Schulaufgaben machen sie auf dem Boden oder im Bett. "Uns gehen die Schülerinnen und Schüler verloren, die in prekären Verhältnissen leben. In diesen Fällen nutzen die ganzen zur Verfügung gestellten Endgeräte nichts, wenn zu Hause auf engstem Raum keine Voraussetzungen zum Lernen da sind," sagt Schulleiter Petri. Er hofft, dass die Sorgen seiner Schüler endlich ernst genommen werden.

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SZ vom 11.02.2021/vewo
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