Risikogruppen in der Pandemie:"Macht ihr mal Corona, ich mache Krebs"

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Für Risikogruppen stellt die Corona-Pandemie besondere Herausforderungen dar. (Foto: N/A)

Manche nehmen das Virus relativ locker, weil es ihnen wenig anhaben kann. Für andere würde eine Infektion Lebensgefahr bedeuten. Wie sehen Risikogruppen den manchmal sorglosen Umgang mit Abstands- und Maskenregeln? Fünf Beispiele.

Von Ekaterina Kel

Angriffe auf ein geschwächtes Immunsystem

Für Sabine Herling markiert der Monat März eine Zäsur. Damit ist nicht der erste Corona-Lockdown gemeint. Für die 50-Jährige fängt da der Kampf mit einer ganz anderen Krankheit an. Herling bekommt die Diagnose Brustkrebs. Ärzte sagen, es sei eine sehr aggressive Art, man müsse sofort mit Chemotherapie beginnen. Das heißt für Herling: sechs Monate Medikamente, die nach und nach alle schnell wachsenden Zellen im Körper zerstören. Und während sich alle Welt darum bemüht, die Kurve der Neuinfektionen mit dem Coronavirus flach zu halten, schaltet Herling in den Überlebensmodus: "Macht ihr mal Corona, ich mache Krebs" - so hat sie sich manchmal gefühlt auf ihrem "komischen Krebsstern".

Sabine Herling leidet an Brustkrebs - einem sehr aggressiven, wie die Ärzte sagen. (Foto: Robert Haas)

Die erste große Hürde ist überwunden. Vor drei Wochen sei der Brief gekommen, dass die Chemo gut funktioniert hat, erzählt Herling. Dazwischen gab es eine Operation, um das Gewebe zu untersuchen. Und etliche Krankenhausaufenthalte wegen Infektionen, Komplikationen und kleineren Eingriffen, etwa um den entzündeten Port, einen Dauerzugang zur Vene, auszutauschen. Der nächste Schritt: eine wochenlange Strahlentherapie, um auch den letzten Rest Krebs aus dem Körper zu tilgen. Ein erneuter Angriff auf das schon stark geschwächte Immunsystem.

Was bedeutet das in Pandemiezeiten? Für eine selbständige Texterin und Lektorin und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in der Pubertät? Viel Einigeln, viel Einsamkeit, das kenne sie auch aus Vor-Coronazeiten, sagt Herling. "Ich muss unheimlich viel aufbringen, um den Kopf hochzuhalten." Aber da sei auch Erleichterung, sie müsse niemandem erklären, warum sie mit Maske, Handschuhen und Desinfektionsmittel herumläuft. "Alle müssen sich schützen, als gäbe es nur dich", sagt Herling. Für die, die es nicht so genau nehmen, habe sie kein Verständnis. Da denke sie nur, da wolle sicherlich keiner tauschen.

Die Familie besuchen? Lieber nicht

Die Welt des Hauses an der Effnerstraße teilt sich in ein Vorher und ein Nachher. Vorher stand die Automatiktür des Seniorenheims immer offen, zumindest zu den Tageszeiten. "Es konnte jeder rein, wie er wollte", erzählt Wolfgang Handschuch, 80, Rentner und seit zwei Jahren Bewohner des Hauses in Bogenhausen. Mit Anfang der Pandemie wurde die Tür verriegelt. Besuchsverbote machten Tausenden Altenheimbewohnern zu schaffen - so auch Handschuch, der seine Schwester, seinen Schwager, seinen Sohn mit der ganzen Familie nicht empfangen durfte. Seit einiger Zeit geht das wieder, aber nur für eine Stunde und jeweils nur eine Person. Neulich wollte die Schwester mit ihrem Mann vorbeikommen, es hätte Zwetschgendatschi gegeben, und Handschuch wäre in seinem betreuten Zwei-Zimmer-Apartment gerne Gastgeber gewesen. Doch das ging nicht. Und selbst mal die Familie besuchen? "Da gibt es ein großes Jein", sagt er. Er wolle das Risiko des Virus nicht zu den Enkeln tragen - und auch nicht ins Heim.

Für Wolfgang Handschuch und die anderen Bewohner teilt sich die Welt seit Corona in ein Vorher und ein Nachher. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Trotzdem sagt Handschuch: "Im Moment lässt es sich ertragen." Obwohl die Cafeteria immer noch zuhat, das gemeinsame Essen sich auf je zwei Personen pro Tisch beschränkt, die sich diagonal gegenübersitzen, und allgemein die Geselligkeit im Hause fehlt, sei es besser als beim ersten Lockdown.

Vor Jahren hatte Handschuch eine Herzoperation, er nimmt Medikamente. Angst vor Corona? "Ich würde es eher Besorgnis nennen." Er verfolgt, wie die Zahlen hochgehen. Mehrmals habe ihm die Corona-Warn-App ein niedriges Risiko angezeigt, erzählt er. Ihm bleibe nichts übrig, als vorsichtig zu sein. Er verbringt ohnehin viel Zeit im Internet. Seit 40 Jahren ist er Mitglied der SPD und im Ortsverein aktiv - jetzt eben online. Und wenn eine Trambahn mal zu voll ist, nimmt er einfach die nächste. Oder er geht einfach mal in die Natur. Er sei wohl das, was viele "rüstig" nennen, sagt Handschuch und lacht.

Liebe und Pflege nur noch auf Abstand

Der Körper von Peter Lenz kennt viele Jahre harte Arbeit: Vor der Frührente hat der 62-Jährige als Altenpfleger gearbeitet. Damals habe er mal mit den Kollegen die Schritte gezählt, zwölf Kilometer pro Schicht sei er da gelaufen. Dazu die vielen Schichtdienste, bei denen er mitten in der Nacht aufstehen oder sich lange wachhalten musste. Seit sieben Jahren muss Peter Lenz es nicht mehr tun. Wegen mehrerer Behinderungen, Schmerzen im Rücken, im Halswirbel, Herzproblemen, Atemnot und Depressionen durch dauernden Schlafentzug, ist Lenz auf den Rollator angewiesen und zu 60 Prozent Schwerbehindert.

Der Schlaf, sagt Peter Lenz, "ist für mich die größte Freude". (Foto: Robert Haas)

Der Schlaf, sagt Lenz, "ist für mich die größte Freude". Ins Bett zu gehen, wenn er müde wird und aufzuwachen, wann er selbst es für richtig hält. Es macht ihn froh, endlich über seine eigene Zeit zu verfügen. Ansonsten verbringe er ohnehin viel Zeit zu Hause. Und seit der Coronavirus-Pandemie gehe er noch seltener raus, erzählt Lenz. Lässt sich die Einkäufe von der Haushaltshilfe bringen. Auch die Herzsportgruppe, "ein bisschen was fürs Gleichgewicht", fällt im zweiten Lockdown wieder aus.

Aber eine Sache ist ihm sehr wichtig: Fast täglich steigt Lenz in U-Bahn oder Bus, um zu seiner Lebensgefährtin zu fahren. Auch, wenn er mal eine Bahn abwarten muss, wenn sie zu voll ist, "ich habe ja Zeit". Sie kennen sich seit vielen Jahren, waren auch mal verheiratet, sind immer zusammen in den Urlaub gefahren. 2014 kam die verhängnisvolle Reise auf Sri Lanka. Dort infizierte sich Lenz' Partnerin mit der Vogelgrippe, man hat es erst in Deutschland festgestellt. Sie musste ins Krankenhaus, war mehrere Wochen auf Intensivstation. Seitdem sei sie zu 100 Prozent schwerbehindert, erzählt Lenz. Und seitdem pflegt er sie selbst.

Corona hat sich dabei zwischen sie gedrängt. "Sie ist da sehr empfindlich", sagt Lenz. Und auch er selbst sei "immer vorsichtig". Also heißt es auch zwischen den beiden Abstand halten, Lüften, Desinfizieren - kein Körperkontakt. "Ich kann sie zurzeit nicht in den Arm nehmen", sagt Lenz, gerade jetzt, da es so wichtig wäre. Aber die Besuche, die lasse er sich nicht nehmen.

Atemübungen beim Treppensteigen

Manchmal, wenn sie mal zum Zug laufen muss, und dann schnaufend und hustend im Abteil steht, bekommt Silvia Weber eine aufmerksame Nachfrage: "Geht es Ihnen gut?", fragen die Leute sie dann. Das finde sie freundlich, sagt sie, aber die Antwort laute immer: "Ja." Sie müsse nur mal ihre Atemübungen machen, dann gehe es gleich wieder. Die positive Einstellung, die lässt sie sich von ein paar Schnaufern doch nicht nehmen.

Wenn Silvia Weber gefragt wird, ob alles in Ordnung ist, antwortet sie immer mit "Ja" - auch wenn das nicht immer so stimmt. (Foto: Catherina Hess)

Weber hat eine chronische obstruktive Lungenerkrankung, kurz COPD. Nachdem sie 30 Jahre lang geraucht hatte, kam 2010 die Diagnose. Das heißt, ihre Lungenfunktion nimmt schleichend ab, sie ist im zweiten von vier Stadien. Doch Weber macht alles, damit sich ihr Zustand nicht verschlechtert. Sie war schon zweimal auf Reha, nimmt Medikamente, treibt Sport, geht raus in die Natur, macht Atemübungen. Zur Arbeit in der Kantine eines großen Versicherungsunternehmens fährt die 56-Jährige mit dem Zug, auf dem Bahnsteig übt sie den Stand auf einem Bein fürs Gleichgewicht, auf der Treppe zu ihrer Wohnung in den zweiten Stock werden Atemtechniken geübt. Und im Moment, da fühle sie sich gut, sagt sie.

Das Coronavirus gilt als besonders gefährlich für Menschen wie Silvia Weber. Die Erkrankung Covid-19 kann eine Lungenentzündung verursachen - für COPD-Patienten riskant. Doch Weber sagt: Als die Nachricht von einem neuen bedrohlichen Virus kam, habe sie sich "keinen Kopf gemacht". Warum? Vielleicht ist es das Vertrauen in das Gute in der Welt. "Das ist auch eine Lebenseinstellung", sagt sie. Ihr Lächeln ist ansteckend.

Die Arztpraxen versucht sie aber gerade zu meiden. "Da ist mir momentan zu viel los." Und eine zu volle U-Bahn lasse sie auch mal aus. Kann sie unter der Maske gut atmen? Das sei mit der richtigen Atemtechnik kein Problem, sagt sie, durch die Nase ein, durch den Mund aus. Dass sich außerdem alle anderen ebenfalls schützten, gebe ihr nur mehr Sicherheit. Und noch ein Nebeneffekt: Jetzt im Winter wird die Atemluft gewärmt.

Immer auf die perfekten Werte achten

Seit sie 16 Jahre alt ist, beschäftigt sich Sophia Oberhuber täglich mit ihrem Zucker. Die heute 24-Jährige hat Diabetes, das heißt, ihr Körper kann den Zucker im Blut nicht selbst verarbeiten und braucht Insulin. Den muss Oberhuber ihm nach beinahe jeder Mahlzeit geben, das heißt: ständige Kontrolle, Selbstmanagement der Erkrankung. Oberhuber beschreibt das so: "Du bist selbst dafür verantwortlich, nicht zu sterben." Denn Diabetes, in ihrem Fall ist es die angeborene Typ-1, sei potenziell tödlich. Stimmen die Werte nicht, stehe sie unter Druck.

Sophia Oberhuber. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Als es zum ersten Mal hieß, Corona sei für Diabetiker besonders gefährlich, habe sie "echt Panik" gehabt. Sie sei mit ihrem Freund für fünf Wochen zu ihren Eltern aufs Land gefahren und habe in dieser Zeit etwa viermal das Grundstück verlassen. "Ich habe mich in keinen Supermarkt getraut", erinnert sie sich. Und wieder zurück in München hat die Studentin und Journalistin Oberhuber sich nur vereinzelt mit Freunden verabredet. Erst später kam von den Medizinern die Differenzierung: Vor allem Typ-2-Diabetiker seien gefährdet. Und Typ-1-Erkrankte nur, wenn ihre Blutzuckerwerte nicht in Ordnung seien. Das bedeutete für Oberhuber: noch mehr Druck, die perfekten Werte zu haben.

Bis sie Mitte September selbst Erkältungssymptome bekam. Sie habe sich dann selbst in Quarantäne begeben und einen Corona-Test gemacht, erzählt sie. Ergebnis: positiv. Ansteckungsort: unbekannt. Nach dem ersten Schock und dem dauerhaft erhöhten Blutzucker über eineinhalb Wochen, verlief aber alles glimpflich. "Ich hatte zum Glück einen sehr milden Verlauf." Monatelang habe sie Angst gehabt, eine von denen zu sein, die auf Intensivstation beatmet werden - und dann trat das befürchtete ein und nahm ihr die Angst. Trotzdem sagt Oberhuber heute: Wer in der U-Bahn ohne Maske fährt, sei "ignorant". Sie wünschte, die Menschen würden mehr an die Gefährdeten in der Gesellschaft denken.

© SZ vom 14.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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