Corona-Politik:"So kann man nicht planen und nicht arbeiten"

Coronavirus - Impfzentrum München

Versteckt seinen Unmut über Staats- und Bundesregierung nicht mehr länger hinter der Maske: Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD).

(Foto: dpa)

Oberbürgermeister Reiter (SPD) kritisiert die Corona-Politik von Staats- und Bundesregierung in ungewohnt scharfen Worten. Die Stadt will sich als Modellstadt für ein einmaliges Experiment bewerben.

Von Heiner Effern

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hat nach einem Jahr Corona-Politik Bund und Ländern Versagen vorgeworfen. Diese hätten das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen "völlig ausgehöhlt", sagte er in der Vollversammlung des Stadtrats im Löwenbräukeller. Städte und Gemeinden hätten "keine Stimme, kein Votum, kein Mitspracherecht" bei den Beschlüssen zur Bekämpfung der Pandemie. Es könne nicht sein, dass die Kommunen "seit einem Jahr fremdregiert werden", sagte Reiter. "Insbesondere, wenn man das Ergebnis sieht."

Die jüngsten Entscheidungen der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten seien im Grad der "Lächerlichkeit" angekommen. Er verspüre zudem keine Lust mehr, ständig "in Sippenhaft genommen zu werden für Entscheidungen, die die bayerische Staatsregierung trifft". Diese lehne jede Eigeninitiative Münchens kategorisch ab. Lange habe er versucht, die Corona-Politik einvernehmlich und ohne Krakeelen mitzugestalten, sagte Reiter. Damit ist es offensichtlich vorbei.

Der Münchner Oberbürgermeister mag zum Beispiel nicht mehr den Vorwurf hinnehmen, dass seine Stadt und seine Verwaltung das Impfen nicht vernünftig hinbekämen. "Wir kriegen zu wenig Impfstoff", nannte er als den wesentlichen Grund für die bescheidene Quote von 8,3 Prozent bei den Erstimpfungen. In München lebten etwa 14 Prozent der Menschen in Bayern, von 14 Prozent der Impfdosen sei die Stadt aber weit entfernt. Er liege deshalb "im Dauerclinch" mit dem bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Die Stadt bekäme drei Mal am Tag unterschiedliche Ankündigungen, wie viel Impfstoff sie demnächst zu erwarten habe. "So kann man nicht planen und nicht arbeiten", ärgerte sich Reiter, und nahm den gerade noch gescholtenen Holetschek auch wieder in Schutz, weil dieser "ähnliche Probleme" wie er selbst habe.

Gemeint ist das Management der Regierung in Berlin. Eine solche Situation sei "bemerkenswert für die Bundesrepublik Deutschland, ein Jahr nach Beginn der Pandemie und drei Monate nach dem offiziellen Impfstart". Noch während der Stadtrat über Corona diskutierte, unterbrach Reiter die Debatte für eine Nachricht, die perfekt zu seinem Gemütszustand passte. Soeben hätten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten in einer spontanen Sitzung die beschlossenen Ruhetage für Ostern zurückgenommen, verkündete Reiter. Er enthalte sich jedes Kommentars, kommentierte der OB.

Der Stadtrat debattierte aber nicht nur, er beschloss auch einige Maßnahmen, wie er den Münchnern das Leben in der Pandemie erleichtern möchte. Auf Antrag der CSU wird sich die Stadt beim Freistaat als eine der Modellkommunen bewerben, die nach Ostern mit einem strengen Schutz- und Testkonzept Teile des öffentlichen Lebens für 14 Tage öffnen dürfen. Dazu wird es ein Hearing geben, wie mit digitalen Methoden das Testen und das Nachverfolgen von Infektionsketten effektiver gestaltet werden können. Die Stadträte stimmten auf Initiative der Linken dafür, dass alle Münchner Kliniken und Pflegeeinrichtungen mit einem Schnelltest-Konzept Besuche für schwer erkrankte oder sterbende Menschen ermöglichen sollen. Und der Gärtnerplatz soll nach Willen der grün- roten Koalition eine "digitale Füllstandsanzeige" erhalten. Damit soll aber nicht der Alkoholpegel der Feiernden, sondern deren Zahl auf dem Platz angegeben werden, um eine Überfüllung zu verhindern.

Der Gesundheitsausschuss soll nun wieder regelmäßig zusammenkommen

Das klingt nach harter Sacharbeit, doch für dieses Beschlüsse wären keine knapp drei Stunden Debatte, sondern 15 Minuten ausreichend gewesen. Den Rest der Zeit nutzten die Stadträte, um sich gegenseitig vorzuhalten, wer sich in der Corona-Politik welche Unverschämtheit gegenüber wem geleistet habe. Ausgangspunkt der Konfrontation war die CSU, die in einem Artikel in der Abendzeitung der für die Gesundheit zuständigen SPD-Bürgermeisterin Verena Dietl mangelnden Einsatz und der SPD-Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek mangelnde Kompetenz attestiert hatte. Festgemacht wurde dieser Befund unter anderem daran, dass im Jahr 2021 trotz Pandemie noch keine einzige Sitzung des städtischen Gesundheitsausschusses stattgefunden habe.

Die Diskussion zur Corona-Situation in der Vollversammlung eröffnete dann die SPD-Stadträtin Barbara Likus mit einer Tirade gegen die CSU, die nicht nur diese und viele andere Oppositionsparteien, sondern auch die Grünen und die eigene Fraktion irritierte. Damit löste sie einen Schlagabtausch aus, der für die Reputation der Corona-Politik auch nicht viel hilfreicher gewesen sein dürfte als die letzten beiden Konferenzen von Bund und Ländern in Berlin.

Der CSU wurde im Verlauf vorgehalten, dass sie ruhig ein paar Sätze der Distanzierung zu ihren Parteikollegen hätte anbringen können, die in die Maskenaffäre verstrickt seien. Das holte Fraktionschef Manuel Pretzl auch nach. Da SPD und Grüne schon versucht hatten, das Likus-Lamento wieder einzufangen, wollte Pretzl nach eigener Ansage rhetorisch gemäßigt zurückschlagen. Dazu gehörten dann bei ihm die Schlagworte menschliche Enttäuschung, Kälte, Zynismus und Wahnsinn.

Letzteres bezog sich allerdings nicht auf den Geisteszustand der Kollegin, sondern auf deren Aussage, dass die kritisierten SPD-Politikerinnen für "maximale Transparenz" der städtischen Corona-Politik sorgen würden. Es tage lediglich ein nicht öffentlicher und unverbindlicher "Runder Tisch Corona". In diesem Punkt erzielte die CSU auch einen Erfolg: Der Gesundheitsausschuss soll nun wieder regelmäßig zusammenkommen. Ob die Kritik an OB Reiter auch etwas im Sinne der CSU bewirken wird, blieb offen. In der Flüchtlingskrise sei der OB sogar bis in die USA aufgefallen mit eigenen Akzenten, obwohl auch hier die Kommunen nichts zu sagen gehabt hätten, monierte Pretzl.

In der Corona-Krise, so der unausgesprochene Vorwurf, sei Reiter mit eigenen Ideen nicht einmal bis Kleinhadern durchgedrungen. Reiter rügte zuerst das zerstrittene Bild, das der Stadtrat abgebe, um anschließend der CSU noch eine mitzugeben. Von der sehe und höre man in München auch nichts, und offensichtlich sei der Einfluss auf die Parteifreunde in der Staatsregierung und Ministerpräsident Markus Söder "gleich null". Und weil er grad in Fahrt war, setzte er noch eine Spitze: "Mit mir spricht er zumindest." Noch jedenfalls.

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