"Kulturlieferdienst" in München:Der Rock kommt wieder ins Rollen

"Kulturlieferdienst" in München: In der Corona-Zeit brachte der "Kulturlieferdienst" Musik und Tanz auf die Straßen.

In der Corona-Zeit brachte der "Kulturlieferdienst" Musik und Tanz auf die Straßen.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Der neue "Kulturlieferdienst" bringt das erste Konzert seit dem Corona-Stillstand nach München - getarnt als Versammlung. Auf der gesperrten Kapuzinerstraße geben "Dr. Will & The Wizards" die Corona-Version des Schäffler-Tanzes

Von Michael Zirnstein

Es ist ein historischer Moment. Gleich werde das erste Lied in München öffentlich gespielt werden seit sieben Wochen, verkündet Benjamin David mitten auf der Kapuzinerstraße über die Lautsprecher. Der Kulturpionier, der mit den Urbanauten der Stadt schon einen Partystrand beschert hat, sieht sein neues Projekt in der Tradition der Schäffler. Die Fassmacher tanzten nach Ende der Pest als Erste, um die verunsicherten Bürger wieder ins Freie zu locken. Davids "Kulturlieferdienst" soll nun auch das Leben in den öffentlichen Raum zurückbringen, und nicht durch das systemrelevante Shopping, sondern durch Musik.

Schon beim Soundcheck halten Passanten inne, berührt von etwas lange, lange Ungehörtem: dem Klang einer live gespielten E-Gitarre. Ob das Musik sei, fragten tatsächlich einige Verwunderte. Ein wilder Mann mit Knochenkette um den Hals vertreibt sich das ebenso lang vermisste Lampenfieber neben der improvisierten Bühne im Gespräch mit Zaungästen. Gleich wird er, Dr. Will, samt Band The Wizards mit seinem Voodoo-Bluesrock loslegen. Sein Outlaw-Outfit unterstreicht die Verwegenheit dieser Tat. Ob das nicht verboten sei? Ja, antwortet er, noch bis Mitte Mai, aber das hier sei kein Konzert, sondern eine Versammlung, es gebe auch "Reden und so".

Nur durch diese Hintertür sind momentan Konzerte möglich (man könnte höchsten noch versuchen, sie als Gottesdienst zu tarnen). Der Kulturlieferdienst darf mit dem Segen des Innenministeriums und des Kreisverwaltungsreferats eine einstündige Kundgebung mit 50 Teilnehmern abhalten, quasi eine musikalische Demonstration "zur Rettung der Münchner und bayerischen Kunst- und Kulturszene". Freilich unter strenger Einhaltung des Infektionsschutzes. In der abgesperrten Zone haben Helfer drei Meter große Kreise als Abstandsanzeiger auf den Asphalt gekreidet, die rasch erobert werden. "Entweder ihr gehört zu den glücklichen 50, oder ihr wohnt hier", sagt Benjamin David mit Blick auf die Logenplätze an den Fenstern der Straßenschlucht, ansonsten sei es behördlich geboten, weiterzutrotten auf dem Trottoir.

Die Notstandskultur ist gewöhnungsbedürftig: Bei Flatterbandkonzerten werden wenige erlesene Zuhörer Darsteller ihrer selbst. Sie werden beneidet und begafft, setzen aber auch Zeichen - und das wäre eine schöne Errungenschaft der Corona-Kultur, dass das Publikum nicht nur genießt und schweigt, sondern wieder für etwas steht. So wie später eine der Wippenden aus ihrem Kreidekreis als Rednerin hervortritt. Es ist Sanne Kurz, selbst Film- und Performancekünstlerin, als Abgeordnete der Grünen im Landtag hat sie sich für mehr Corona-Hilfe an Kulturschaffende stark gemacht. Inzwischen hat Ministerpräsident Markus Söder dem Drängen - auch vieler Künstler-Appelle - nachgegeben und ein weiteres Kulturprogramm versprochen. Initiativen wie der Kulturlieferdienst wirken also. Was dringend nötig sei, findet Kurz: Bands wie die von Dr. Will müssten trotz Konzertverbots Miete, Essen und Krankenversicherung zahlen. Mit zwei Hüten und einem "virtuellen Klingelbeutel" sammelt der Kulturlieferdienst dafür Spenden.

Musiker haben mit dem Virus eines gemeinsam: Sie leben von der Verdichtung, von den Menschen, die sich um sie herum tummeln. Musikalisch immun ist hier keiner. Trotz des Mindestabstands springt die Begeisterung leicht über, entfacht fast schon Straßenfeststimmung (bei selbstmitgebrachtem Bier), vom ersten Song an. Ob nun "Working on the railroad for a dollar a day" ein politisches Manifest sein sollte zur Notlage aller Künstler, die sich derzeit durch Hilfsarbeiter-Jobs über Wasser halten, oder einfach nur ein klassischer Blues, wird Dr. Wills Geheimnis bleiben.

Unklar ist auch, ob es wirklich das erste Stück in München seit sieben Wochen war. Denn exakt zur selben Zeit spielt die Straßenkampfkapelle Expressbrassband unter der Bavaria Stücke zum Gedenken an den 8. Mai. Freilich kein Konzert, sondern eine Versammlung unter dem Motto "Nie wieder Krieg!", mit Absperrwimpeln, Sicherheitsabstand, Tuba-Virenschutztuch und "Pace"-Flaggenschwinger. Benjamin David kündigte jedenfalls nach seiner ersten Versammlung an, mit dem Kulturlieferdienst weiterzumachen, in den nächsten Wochen fast täglich auch vor Senioren-, Pflege- und Flüchtlingsheimen. Man könne ihn sogar anfragen (benjamin.david@isarlust.org) und Lieblingskünstler oder Genres von Musik bis Theater vorschlagen. Wer der Erste war, ist letztlich egal, Hauptsache, es geht weiter.

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