SZ-Adventskalender:Wie viel kann ein Mensch aushalten?

Frau im Treppenhaus, 2010

Manche Schicksale lassen sich schon beim Lesen oder Anhören kaum ertragen, wie halten das die Betroffenen nur selbst aus?

Ihr Mann starb an einem epileptischen Anfall, ihre Firma ging wegen Corona insolvent. Jetzt muss die krebskranke Meriam Peter mit ihren Söhnen aus ihrem Zuhause ausziehen. Auch Eva Stoll leidet unter der Wohnsituation ihrer Familie.

Von Bernd Kastner

Meriam Peter (Name geändert) lebt in einer geräumigen Wohnung. Was gut klingt, ist in Wahrheit ein großes Problem für sie und ihre Kinder. Sie wollen, nein, sie müssen raus aus dieser Wohnung, so schnell wie möglich, aber wohin? Das Geld fehlt, aber das ist noch längst nicht das Schlimmste für die Familie. Zwei Tage vor dem Besuch der SZ steht die Polizei vor der Tür. Die Beamten sind wegen des Vaters der Kinder gekommen. Er ist tot, der Ex-Mann von Meriam Peter ist an einem epileptischen Anfall verstorben. Dabei wollte der Vater bald zurück nach München ziehen, um für seine Söhne da zu sein. Sie wollten zusammenstehen, denn die Mutter ist schwer krank. Meriam Peter hat Krebs, er ist weit fortgeschritten. Die Ärzte machen ihr wenig Hoffnung.

Die Frau am anderen Ende des langen Tisches ist 50 Jahre alt und wirkt stark. Wie viel, fragt man sich, wenn man ihr zuhört, kann ein einzelner Mensch aushalten? Wie viel Kraft muss diese Frau haben, dass sie es bis hierher geschafft hat? Geboren ist Meriam Peter im Sudan und aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie. Mit 26 Jahren geht sie zum Studieren nach Deutschland, sie lernt einen Mann kennen, 1999 kommt ihr erstes Kind zur Welt. Nicht lange nach der Geburt des zweiten Kindes trennen sich die Eltern, verlieren sich aber nicht aus den Augen. "Wir haben uns sehr geliebt", sagt Meriam Peter. Später finden sie wieder zusammen, aber es ist der Alkohol, der den Vater der Kinder krank und die Beziehung kaputt macht.

Gearbeitet hat Peter als Dolmetscherin und Betreuerin ausländischer Patienten, die zur Behandlung nach München reisen, in der Maximilianstraße hatte sie ihr Büro. Wegen der Familie zieht sie nach Nürnberg, will ihre Firma mitnehmen, doch es läuft nicht gut. Ein paar Monate nach dem Umzug 2014 erfährt sie vom Krebs. Sie beginnt zu kämpfen. "Ich habe mich nicht allein gefühlt, der Opa war ja da, er war wie ein zweiter Papa für mich." Ihr Schwiegervater ist wichtig für sie und die Kinder. Vor vier Jahren erzählt er, dass auch er Krebs hat. Er ist optimistisch, will sich operieren lassen, vorher aber noch in den Urlaub, er reist nach Griechenland. Dann ist er nicht mehr erreichbar, tagelang. Es ist die Polizei, die sich meldet. Der Opa ist beim Schwimmen im Meer ertrunken.

Der Tumor in Meriam Peters Körper streut. Die vergangenen Jahre sind geprägt von Chemotherapie, Bestrahlungen, Operationen. Nebenbei versucht sie, beruflich wieder Fuß zu fassen. Als der ältere Sohn einen Studienplatz in München bekommt, zieht die Familie zurück nach München. Ein Neuanfang. Peter will wieder ins Geschäft mit Medizintouristen einsteigen, Bekannte schlagen ihr vor, zusammen eine neue, kleine Firma aufzumachen. Das ist 2019. Man verspricht ihr ein festes Gehalt, sagt sie, und eine Art Dienstwohnung. Ihr ist nicht wohl dabei, in eine 140-Quadratmeter-Wohnung in Schwabing zu ziehen, für gut 3000 Euro im Monat, lieber wäre ihr etwas Kleineres. Aber der Chef drängt sie dazu, unterzeichnet den Vertrag, die Firma zahlt ja. Dann aber kommt Corona.

40 Quadratmeter zu viert, da kracht es schon mal

Verhängnisvoll kann auch eine viel zu kleine Wohnung sein. Eva Stoll (Name geändert), 43, sagt: "Ich verstehe das nicht." Warum ist sie nach fünf Jahren des Wartens noch immer nicht zum Zuge gekommen, kann noch immer nicht in eine größere Wohnung ziehen, raus aus den 40 Quadratmetern? Mit ihren drei erwachsenen Kindern lebt sie dort. Ein Bett gibt es, es schließt an die Küchenzeile an, drei Matratzen liegen auf dem Boden, ein kleines Sofa dazwischen.

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Eva Stoll (Name geändert) lebt mit ihren drei erwachsenen Kindern in einer viel zu kleinen Wohnung. Jeder Tag ist eine Belastung.

(Foto: Robert Haas)

Ihre Kinder wohnen bei ihr, weil sie krank sind und die Mutter brauchen. Die Tochter, 24, hat die mittlere Reife abgeschlossen, aber ihre Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin abgebrochen. Sie ist psychisch krank, beim Besuch der SZ befindet sie sich in einer Klinik. Auch der ältere Sohn, 21, kämpft mit psychischen Problemen, er ist Autist. Den Besuch einer privaten Fachoberschule musste er abbrechen, weil sich die Mutter das Schulgeld nicht mehr leisten konnte. Der jüngere Sohn ist gerade volljährig geworden, hat den Quali geschafft, wollte weitermachen auf der Schule, aber sein Notenschnitt war nicht gut genug. In der Wohnung, vor allem in Corona-Zeiten, klappte es nicht mit dem Lernen. Auch er ist angeschlagen, er ist Diabetiker.

Alle vier leiden unter der Wohnsituation. Der autistische Sohn braucht viel Ruhe, erzählt Eva Stoll, es ist aber selten ruhig. Und zwischen den Geschwistern krache es schon mal, kein Wunder. Die Mutter versteht nicht, dass kürzlich das Wohnungsamt ihre Punktzahl reduziert hat, dabei sind Punkte bei den Bewerbungen um eine Sozialwohnung das Wichtigste. Von den Punkten hängt ab, ob zumindest eine minimale Chance besteht.

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Das Amt habe ihre Wohnung mit eineinhalb Zimmern gewertet nicht mit einem, das reduziert die Punkte. Eva Stoll versteht das nicht, schließlich gibt es nur eine etwas größere Nische, wo zwei Matratzen liegen, nur durch einen Vorhang getrennt. Auch ihr Betreuer vom Sozialbürgerhaus versteht das nicht. Vor wenigen Tagen bekommen die Stolls wieder Post vom Amt, die Punktzahl ist hochgegangen.

Eine größere Wohnung bedeutet das aber noch lange nicht. Sie müssen sich erst bewerben dürfen und dann den Zuschlag vom Vermieter bekommen. Es ist der größte Wunsch. Für einen anderen Traum muss erst das Virus verschwinden: Eva Stoll würde so gerne mit ihren Kindern mal verreisen. Egal wohin, Hauptsache mal raus, gemeinsam, ohne Stress. Zunächst würden sie sich über Alltägliches freuen: Kleidung für den Winter, sie haben nur das Allernötigste, und neue, echte Betten, ein Sofa, das jetzige ist noch vom Vormieter.

Alle Wünsche ließen sich mit Geld erfüllen, nicht aber die größte Sehnsucht

Genauso geht es auch der anderen Familie, den Peters mit ihrer viel zu großen Wohnung in Schwabing. Sie ist nämlich möbliert, und sollten die Peters umziehen, hätten sie nichts, kein Bett, keinen Tisch, kein Sofa, keinen Schrank. Und auch sie bräuchten dringend Kleidung, der jüngere Sohn geniert sich in der Schule, weil er kaum was zum Wechseln hat. Und ein neuer Computer wäre wichtig. Das alles ließe sich mit Geld erfüllen, nicht aber der größte Wunsch. Gesundheit. Weiterleben.

Den jüngeren Sohn quälen die Sorgen um seine Mutter, dass er sich irgendwo den Corona-Virus einfangen und dann die Mutter anstecken könnte. Der Krebs macht die Mutter zur Hochrisikopatientin. Da ist aber auch die Wirbelsäule, sie ist stark geschädigt. Macht Meriam Peter eine falsche Bewegung, könnte ein Wirbel brechen. Sie säße im Rollstuhl.

Aus ihrer großen Wohnung sollten sie schon raus sein. Peters Firma ist wegen Corona insolvent gegangen, zahlt kein Gehalt, überweist keine Miete mehr. Die große Wohnung ist für die Peters zur großen Falle geworden. Bei allen Sorgen bleibt Meriam Peter der Stolz auf ihre Söhne. "Mama", haben sie mal gesagt, "Mama, wir wollen unsere Abschlüsse sehr gut machen." Die Mutter ist sich sicher, dass sie ihr Leben mal gut in die Hand nehmen werden.

Dann erzählt sie noch, dass eine Psychologin sie mal gefragt habe, wie sie selbst sich sehe. Darauf hat sie geantwortet, dass sie sich mitten im Meer schwimmend sieht, die Strömung ist stark, es zieht sie hinaus. Am Strand aber sieht sie ihre beiden Söhne stehen; sie warten. Die Mutter sagt, sie verwandle die Strömung, die sie wegzieht, in Energie. "Es ist wie eine Kraft, um gegen die Krankheit zu kämpfen." Sie schwimmt. Zum Ufer. Zu ihren Kindern.

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