Süddeutsche Zeitung

München nach der Wahl:Umschalten in den Krisenmodus

  • Am 4. Mai soll erstmals der neue Stadtrat unter der Leitung des neuen-alten Oberbürgermeisters Reiter tagen - bis dahin gibt es noch viel zu tun.
  • Es braucht ein Bündnis im Rathaus, mit dem Reiter regieren kann. Es sollen sowohl Gespräche mit Grünen als auch mit der CSU geführt werden.
  • Im Vergleich zu den vergangenen Koalitionsverhandlungen vor sechs Jahren hat der OB vieles dazugelernt - er ist in seinem Amt gereift.
  • Zunächst muss sich Reiter aber ums Krisenmanagement kümmern - die Folgen des Coronavirus beherrschen die Stadt.

Von Dominik Hutter

Am Morgen nach seinem Wahlsieg saß Dieter Reiter erst einmal im Corona-Krisenstab. Schon wieder. Man kann getrost davon ausgehen, dass er sich diesen Tag ursprünglich anders vorgestellt hat. An jenem Novemberabend 2019, als der SPD-Politiker in der Alten Kongresshalle auf der Theresienhöhe fast einstimmig zum Oberbürgermeisterkandidaten der SPD gekürt wurde, war Corona noch weit weg.

Die Stadtkasse war prall gefüllt und die Kommunalpolitik beschäftigte sich mit Themen wie den Radwegen in der Fraunhoferstraße oder dem Ausbau des Grünwalder Stadions. Lang, lang ist's her. Jetzt wird das reiche München - wie man so schön sagt - den Gürtel enger schnallen müssen. Der neue Stadtrat, der im Mai loslegt, kann sofort auf Krisenmodus umschalten.

Licht und Schatten also für den 61-jährigen Erneut-OB. Einerseits ein Traumergebnis von 71,7 Prozent - das ist selbst in einer Stichwahl sehr ordentlich. Auf der anderen Seite aber eine Stadtratsfraktion, die nach den Grünen und der CSU zur Nummer drei zusammengestutzt wurde und nun wohl allenfalls Juniorpartner in einem neuen Rathaus-Bündnis werden kann. Und mit deutlich zusammengeschnurrtem Gestaltungsspielraum klarkommen muss. Aus finanziellen Gründen. Bisher konnte die rot-schwarze Stadtregierung aus dem Vollen schöpfen. Gerade in der Anfangszeit des Bündnisses nach 2014 kursierte der Scherz: Die eine Fraktion will das eine, die zweite etwas anderes - da macht man doch einfach beides. Geld war ja genug da.

Niemand weiß, wie lange die Corona-Krise noch dauert, aber München muss regiert werden

Nun gelten erst einmal andere Prioritäten. "Oberste Prämisse bleibt: alle notwendigen Schritte initiieren und umsetzen, um München halbwegs durch die Corona-Krise zu bringen." Das sagte Reiter am Montag beim ersten öffentlichen Auftritt nach seinem Wahlsieg - in einem eigentlich viel zu großen Konferenzraum des Kreisverwaltungsreferats, in dem die im Hygiene-Mindestabstand aufgestellten Stühle samt der darauf platzierten Journalisten reichlich einsam wirkten.

So klingt es, wenn ein Wahlsieger im Corona-Modus tickt. "Wir sind keineswegs über den Berg", mahnte der wiedergewählte Oberbürgermeister. Vielmehr stehe München erst am Beginn der Herausforderungen. Reiter dankte den Münchnern für ihr Mitwirken, hatte aber auch Warnungen parat. Wie es am Samstag in Teilen der Stadt zugegangen sei, hinterlasse nicht den Eindruck, "dass sich alle der Problematik bewusst sind, wie ernst dieses Thema ist und wie ernst es noch werden kann". Niemand wisse, wie lange dieser Zustand noch dauern werde.

Aber natürlich muss München weiterhin auch regiert werden, und dafür bedarf es einer Mehrheit im Stadtrat. Reiter kündigte an, sowohl mit den Grünen als auch mit der CSU Gespräche zu führen - bereits am Montag habe er Entsprechendes mit den beiden Fraktionsvorsitzenden Manuel Pretzl (CSU) und Katrin Habenschaden (Grüne) vereinbart. Die Frage, wer Initiator und Verhandlungsführer sei, "stelle ich mir nicht", so der OB. Man werde gemeinsam Termine finden und sprechen. Reiter machte aber auch klar, dass er nur mit den beiden großen Fraktionen verhandeln will, mit denen auch eine Mehrheit möglich sei. Also keine Patchwork-Koalition mit vielen kleinen Verbündeten anstrebt. Im Falle einer schwarz-roten Einigung würde freilich trotzdem noch eine zweite Runde anstehen - denn die bisherige Kooperation hat ohne dritten Partner keine Mehrheit mehr.

Reiter kündigt Gesprächstermine in den nächsten drei Wochen an. Es wird wohl ein wenig dauern, das schwang in seinen Worten mit. Denn Corona hat nicht nur den Reiterschen Zeitplan fest im Griff. Es erschwert auch die Kontaktaufnahme zu den Kollegen der anderen Parteien. Ganz zu schweigen von der Pflicht, Koalitionsvereinbarungen vor ihrem Inkrafttreten durch Parteitage absegnen lassen.

Wann solche großen Parteitreffen wieder stattfinden können, steht derzeit aber in den Sternen. Auch der neue Stadtrat wird erst einmal unter ungewohnten Bedingungen, also wohl nur mit enormen Sitzabständen und damit außerhalb der gewohnten Räumlichkeiten, tagen können. Immerhin: In der ersten Sitzung am 4. Mai sei nicht zwingend der offizielle Akt der Vereidigung erforderlich.

Sollte Reiters SPD nun mit den Grünen zusammengehen, was als die wahrscheinlichste Variante gilt, dürfte das für die meisten Genossen kein allzu großes Opfer bedeuten. Ein solches Bündnis gilt in der Basis beider Parteien als irgendwie logisch, die vergangenen sechs Jahre irgendwie als kleiner Betriebsunfall. Obwohl sich SPD und CSU keineswegs mehr gezofft haben als das frühere rot-grüne Bündnis, das nach Einschätzung diverser Rathauspolitiker 2014 schon ziemlich ausgelaugt war. Von Vorteil ist nun für den neugewählten OB, dass ihn mit der pragmatischen und umgänglichen Oppositionsführerin Katrin Habenschaden ein beinahe kumpelhaftes Verhältnis verbindet. Während zwischen Reiter und der CSU-Spitzenfrau Kristina Frank stets kühle Distanz herrschte. Die Chemie zwischen den beiden stimmte nie, und beide lancierten gelegentlich kleine Spitzen gegen die Konkurrenz.

Dennoch würde auch mit den Grünen vieles anders werden als sich beide Seiten das zuvor ausgemalt haben. Zwar hat die SPD vor einiger Zeit vor allem ihre Verkehrspolitik deutlich verändert, angestoßen nicht zuletzt von Reiter selbst, der für eine weitgehend verkehrsberuhigte Altstadt und mehr Radverkehr wirbt.

Nur: Wenn die Gewerbesteuer als wichtigste kommunale Geldquelle einbricht, und das steht zu erwarten, und gleichzeitig die Ausgaben für die Folgen der Corona-Pandemie steigen, wie viel Geld bleibt dann noch für Verkehrswende und Klimaschutz? Kann man es noch vertreten, völlig intakte Straßen aufzureißen und umzubauen? Ist es finanzierbar, weiterhin Häuser aufzukaufen, um deren Bewohner vor Mieterhöhungen zu schützen? Bisher verfügte München über einen Sieben-Milliarden-Euro-Haushalt. Mehr als 2,7 Milliarden davon kamen über die Gewerbesteuer herein.

Reiter ist das sehr bewusst. Der Diplom-Verwaltungswirt war lange Zeit in der Stadtkämmerei tätig, zuletzt als Vizechef. Später wurde er städtischer Wirtschaftsreferent und fiel Christian Ude auf, dem damaligen OB, der aus Altersgründen nicht mehr antreten konnte und deshalb auf Nachfolgersuche war. Gut möglich, dass ihn die Mischung aus Leutseligkeit, Humor und zupackender Art überzeugt hat, die als Reiters Markenzeichen gilt und wohl auch maßgeblich zu dem Wahlsieg an diesem Sonntag beigetragen hat.

Reiter präsentiert sich gerne selbst in der Pose des Ärmel-Hochkremplers. Damit ist er in den ersten sechs Jahren seiner Amtszeit auch bekannt geworden. Zwei der Ärgernisse, die im Wahlkampf 2013/14 der SPD auf die Füße gefallen waren, der Zustand der Münchner Schulen und der Leerstand städtischer Wohnungen, wurden nach Bildung des rot-schwarzen Stadtratsbündnisses sofort angepackt. Heute ist von beidem keine Rede mehr. Ein milliardenteures Schulbauprogramm ist auf dem Weg, das wohl - da Bildung Pflichtprogramm ist - auch in Zeiten knapper Kassen weiterlaufen wird. Vielleicht mit etwas bescheidenerer Ausstattung.

Der Leerstand der Wohnungen wurde systematisch abgebaut, der Stadtrat ließ sich regelmäßig Rechenschaft erstatten. Überregional in die Schlagzeilen geriet Reiter, als er auf eigene Faust auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2014/15 die Bayernkaserne schloss, in der aus Sicht des SPD-Manns menschenunwürdige Zustände herrschten. Einfach machen. Auch wenn man, wie im Falle der Bayernkaserne, eigentlich gar nicht befugt ist. Ebenfalls in Eigenregie entschied Reiter, dass die Marktbuden am Wiener Platz entgegen früheren Plänen nicht abgerissen werden und dass weder Unnützwiese noch Kustermann-Park bebaut werden.

Vermutlich muss Reiter nicht schauspielern, um diese Rolle zu liefern. Denn es ist unverkennbar, wie sehr er Endlos-Debatten ohne Ergebnis oder schlichte Trödelei verabscheut. Steht jemand aus der Verwaltung in diesem Verdacht, kann der sonst so joviale Reiter sehr ungeduldig und unwirsch wirken. Das hat auch schon seine Fraktion mitbekommen. Als in der Haushaltssitzung 2016 der Haussegen gehörig schiefhing, verbrachte Reiter den Großteil des Vormittags außerhalb des Sitzungssaals und schwänzte später das Weihnachtsessen des Stadtrats, dessen Gastgeber er doch eigentlich war. Reiter weiß, dass er sehr impulsiv sein kann.

Aber er kennt auch seine Grenzen. Nach der Wahl 2014 traute er sich als Neuling noch nicht zu, mit wechselnden Stadtratsmehrheiten zu agieren. Das gibt er heute offen zu. Er verhielt sich bei den Koalitionsgesprächen äußerst vorsichtig, vermied voraussehbare Konflikte wie die DKP-Mitgliedschaft eines für die Linken angetretenen Stadtrats oder die sehr entschiedene Haltung der ÖDP zum Kohleblock im Münchner Norden. Beide Parteien kamen daher als Bündnispartner nicht in Frage, was wiederum bedeutete: Das noch von Vorvorgänger Georg Kronawitter (SPD) 1990 begründete rot-grüne Bündnis hatte keine Mehrheit mehr und war am Ende.

Dass Reiter dann lieber mit der CSU zusammenging, hat nicht jedem Sozialdemokraten gefallen. Alte Feindbilder verblassen nicht so schnell, und eigentlich war man doch auf Rot-Grün getrimmt gewesen. Dass Rot-Schwarz dann sehr pragmatisch zusammenarbeitete und die von vielen befürchtete Attacke der CSU auf einst kritisch beäugte Initiativen ausblieb, überraschte viele Zweifler. Reiter schaffte es, einen äußerst konstruktiven Kurs in der Flüchtlingspolitik zu etablieren. Ein Thema, das ihn geprägt hat, wie er selbst sagt. Die Bayernkaserne und der Hauptbahnhof - manche Erfahrungen lassen einen einfach nicht mehr los. Nun kommt mit Corona eine weitere hinzu. Die München so schnell nicht wieder loswerden wird.

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SZ vom 31.03.2020/infu
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