Süddeutsche Zeitung

Corona-Maßnahmen:München zwischen Öffnen und Bangen

Die Rathaus-Koalition kritisiert die wenig flexiblen Vorgaben des Freistaats, während die Inzidenz- und Patientenzahlen weiter ansteigen.

Von Kathrin Aldenhoff, Anna Hoben und Ekaterina Kel

Die Infektionszahlen steigen, die Kluft zwischen den Rufen aus der einen Richtung - harter Lockdown jetzt! - und der anderen Richtung - Lockerungen, sofort! - scheint auch in München immer größer zu werden. Unterdessen verdichten sich die Anzeichen für eine bundeseinheitliche Notbremsenregelung. Am Montag öffnen die Schulen in München für den Wechselunterricht - auch wenn es gut möglich ist, dass sie dann in der Woche darauf erst recht wieder schließen müssen. So in etwa lässt sich die Lage zum Ende der Woche zusammenfassen.

Bei der grün-roten Rathauskoalition ruft vor allem das Vorgehen der bayerischen Staatsregierung in puncto Schulen Kritik hervor. Das Robert-Koch-Institut hatte am Freitag für München eine Inzidenz von 95,5 gemeldet. Unter Einberechnung der "Ostersondereffekte" wäre die Stadt in Wirklichkeit wohl schon bei über 100, und nächste Woche werde die 100er-Marke voraussichtlich überschritten, twitterte Grünen-Fraktionschef Florian Roth. "Dass die bayerische Staatsregierung den Kommunen anscheinend keinen Spielraum für präventives nicht-kurzfristiges Handeln lässt, ist ein Skandal."

Anne Hübner, Fraktionschefin der SPD, hatte sich zuvor dafür ausgesprochen, dass der städtische Krisenstab alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen solle, um Öffnungen, die auf falschen Inzidenzwerten basieren, zu verhindern. Doch dafür gibt es laut Stadt keinen Spielraum - auch eine aktuelle Nachfrage beim Freistaat "aufgrund der knappen Unterschreitung des Inzidenzwerts in München hat hierzu keine andere Bewertung ergeben", hieß es am Freitagnachmittag in einer Mitteilung.

Es sei "ärgerlich", dass man genau diesen einen Stichtag habe, an dem die Stadt noch unter 100 liege, twitterte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Viele Eltern aber planten ihre Woche nach dem Wert.

"Sie müssen sich auf Regeln verlassen können." Jene Kinder, die von Montag an in die Schule gehen, müssen einen negativen Coronatest vorweisen, unabhängig vom aktuellen Inzidenzwert. Sie können sich in einer Apotheke oder im Testzentrum testen lassen und den Nachweis über einen negativen PCR-Test oder Schnelltest mitbringen. Oder sie testen sich in der Schule selbst. Das findet zweimal pro Woche statt. Bisher hat die Stadt vom Freistaat fünf Lieferungen mit insgesamt rund 1,5 Millionen Selbsttests für Schulen und Kitas erhalten. Diese sollen für die erste Phase nach den Ferien ausreichen. Neue Tests würden nun permanent angeliefert, sagte ein Sprecher des Referats für Bildung und Sport.

Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte Ende März in einem Schreiben an die Staatsregierung gefordert, dass Schülerinnen und Schüler die vorgesehenen Selbsttests zu Hause machen können. Dies sollte verhindern, dass Schüler im Fall einer noch unbemerkten Infektion in die Schule fahren - und zugleich einer Stigmatisierung bei positivem Testergebnis vorbeugen. "Ich finde es sehr schade, dass mein Vorschlag von der Staatsregierung einfach pauschal abgelehnt wurde, ohne irgendwie auf die positiven Argumente einzugehen oder die eigene Entscheidung entsprechend zu begründen", teilte Reiter am Freitag mit. Die Mehrheit der Eltern und die Haltung der Lehrerverbände werde einfach ignoriert. "So wird die Akzeptanz der Corona-Politik sicherlich nicht gefördert."

In den Kliniken steigt unterdessen die Zahl der Covid-19-Patienten weiter an. Aktuell liegen 233 in Münchens Krankenhäusern, 84 davon auf Intensivstation. Vor zwei Wochen waren es insgesamt 170 Patienten, vor vier Wochen 120. Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle waren es 630 Covid-19-Patienten, 150 davon wurden intensivmedizinisch behandelt. Der Geschäftsführer der München-Klinik, Axel Fischer, sprach sich am Freitag für strengere Maßnahmen aus. "Vielleicht wäre ein zweiwöchiger knallharter Lockdown besser als dieses ständige Auf und Zu", sagte er dem Münchner Merkur. "Noch mal zwei Wochen volle Anstrengung und dann haben wir es hoffentlich im Zusammenspiel mit den Impfungen geschafft."

Der Ärztliche Direktor des LMU-Klinikums, Markus M. Lerch, plädiert ebenfalls für ein schnelles Senken der Zahlen: "Alle Maßnahmen, die die Infektionszahlen in München wieder rasch nach unten bringen, wären für Patienten und Krankenhäuser eine riesige Erleichterung", sagte er auf Anfrage. Die zurzeit betroffenen Patienten seien "nicht nur jünger als im letzten Jahr, sondern oft auch viel kränker".

Während die einen strengere Maßnahmen fordern, rufen die anderen nach Lockerungen. Am Donnerstagabend hatten mehrere Kultur- und Wirtschaftsverbände nach der Absage der Bewerbung Münchens als Schnelltest-Modellstadt einen Forderungskatalog für eine eigene Test- und Öffnungsinitiative der Stadt veröffentlicht. Dafür solle "schnellstmöglich" eine städtische Koordinationsstelle auf den Weg gebracht werden. Fordern die Verbände also die Realisierung genau jenes Modellprojekts, das der Freistaat zurückgewiesen hat? "Das wäre der Idealzustand", sagt Michael Höflich, Geschäftsführer der an dem Vorstoß beteiligten Tourismus-Initiative München. Er betont auch, dass die Verbände sich generell mehr Eigeninitiative von der Stadt wünschen würden.

Bereits am Mittwoch hatten die Verbandsvertreter sich mit Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne) getroffen und ihre Forderungen vorgestellt. Es sei ein positives Gespräch gewesen, resümiert Höflich, auch wenn nichts Konkretes in Aussicht gestellt worden sei. "Wenn die Stadt dazu beitragen kann, Kultur und Wirtschaft zu unterstützen, dann sollte sie das unbedingt tun", sagte Habenschaden am Freitag auf Anfrage zu dem Vorstoß der Verbände. Derzeit sehe sie wegen der hohen Infektionszahlen keine Spielräume für Modellkonzepte. Die Vorbereitungen müssten aber jetzt beginnen, "damit die Test-Strategie steht, sobald es weitere Öffnungsschritte gibt". Eine niedrige Inzidenz sei allerdings die Voraussetzung dafür.

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SZ vom 10.04.2021
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