Natürlich musste alles schnell gehen, um die Corona-Infektionszahlen einzudämmen, ja, und natürlich trafen die Beschränkungen alle. Das wissen auch Nadja Rackwitz-Ziegler und Oswald Utz. Aber für Menschen mit Behinderungen waren die Auswirkungen noch gravierender, das können die Vorsitzende des Behindertenbeirats und der Behindertenbeauftragte der Stadt mit vielen Beispielen belegen. Auch bei den Lockerungen müssen Menschen mit Behinderungen am längsten warten. Und wenn es dann daran gehen wird, die enormen Summen, die zur Überwindung der Krisenfolgen jetzt schon ausgegeben wurden, durch Einsparungen in anderen Bereichen gegenzufinanzieren, dürften die Ausgaben für die Inklusion sehr schnell ins Blickfeld geraten. So befürchtet Utz, selbst Rollstuhlfahrer, dass Corona die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen um Jahre zurückwirft. Unter den Beschränkungen sei selbst das "kleine Pflänzchen Integration an den Schulen gestorben, partnerschaftliche Schulmodelle funktionieren derzeit nicht mehr", sagt Rackwitz-Ziegler, die zwei Kinder mit Down-Syndrom hat.
Auch wenn viele Beschränkungen im Sinne eines Infektionsschutzes unumgänglich erscheinen, seien dadurch Menschen mit Behinderungen enorm belastet gewesen. Etwa wenn Begleitpersonen von Menschen mit Down-Syndrom nicht zum Arztbesuch mitdurften. Doch welcher Arzt kann sich in leichter Sprache mit dem Patienten verständigen? Nicht alle Menschen können ein Online-Ticket buchen, wie es jetzt für viele Freizeitangebote vorgeschrieben ist. Auch die in Supermärkten übliche Verfahrensweise, jeden Kunden zur Mitnahme eines Einkaufswagens zu verpflichten, um so die Zahl der eingelassenen Kunden zu kontrollieren, bereitete Ärger: Menschen, die keinen Einkaufswagen nehmen konnten, weil sie mit Rollstuhl oder Rollator unterwegs waren, wurde vom Personal der Zutritt verwehrt. Und bei der Verteilung von Schutzausrüstungen sind zunächst jene mehr als 100 Menschen nicht berücksichtigt worden, die wegen ihrer schweren Behinderung rund um die Uhr Assistenten benötigen. Für Behinderteneinrichtungen galt das Besuchsverbot, "viele Menschen dort waren mit ihren Ängsten alleingelassen", sagt Rackwitz-Ziegler. Auch die offene Behindertenarbeit musste schließen, vielen Menschen fehlte deshalb Tagesstruktur und Begleitung. Eltern, die sich wegen geschlossener Betreuungsangebote allein um Kinder mit schwersten Behinderungen kümmern mussten, seien "unter dem Deckmäntelchen des Schützens" an ihr Limit geraten, sagt Utz.
Selbstvertretungen, wie Elternbeiräte, Angehörigenvertretungen, Wohnheim- und Werkstatträte, konnten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Es mag sein, meint Utz, dass dies in der Krise auf die Schnelle nicht anders machbar gewesen sei. "Mich besorgt, dass dies zum Dauerzustand wird." Zumindest jetzt müsse darüber nachgedacht werden, wie solche Gremien wieder einzubinden sind. Weil auch Werk- und Förderstätten für Menschen mit Behinderungen geschlossen blieben, gebe es nun Diskussionen darüber, ob Behinderte nicht gleich "Schrauben dort sortieren, wo sie schlafen", sagt Utz sarkastisch. Das habe ja in Corona-Zeiten so gut geklappt, warum also Menschen aus dem Wohnbereich in die Werkstätte fahren? Im Schlafanzug zum Arbeitsplatz geht es doch auch. Und müssen denn alle Kinder mit Behinderungen unbedingt in die Schule, geht das nicht auch daheim, Homeschooling sei Dank? Solche Überlegungen und Fragen, die Utz schon gehört hat, bringen ihn in Rage. Denn sie zielen letztlich darauf, die mühsam erkämpfte Teilhabe aus Kostengründen einzustellen. Das hätte zur Folge, Menschen mit Behinderungen aus der Schule, der Arbeitswelt, dem Blickfeld der Gesellschaft zu rücken, wenn man sie "Schrauben sortieren lässt, wo man schläft".
"Statt Inklusion stehen nun Separation und Ausgrenzung auf dem Programm", warnen Rackwitz-Ziegler und Utz in einem gemeinsam verfassten offenen Brief vor Rückschritten. Beide sehen "die Erfolge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in München durch die pandemiebedingt zu erwartenden massiven Verwerfungen im Stadthaushalt in Gefahr". Sie erwarten, dass die Politik und die Verwaltung mit den Betroffenen spricht, wie sich die schwierige Situation bewältigen lässt. "Projekte zu streichen kommt nicht in Frage", betont Utz, aber man könne darüber reden, "ob man das eine oder andere Projekt strecken oder später beginnen lassen kann". Bis Februar sei der Austausch gut gelaufen, "jetzt müssen wir kämpfen, um den Status quo wieder zu erreichen", sagt Rackwitz-Ziegler.