Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ist über das Verhalten der Demonstranten am Samstag schwer verärgert. "Für das, was sich am Samstag in München und insbesondere auf dem Marienplatz abgespielt hat, fehlt mir jedes Verständnis - kein Abstand, keine Masken", erklärte er am Montag. Offene Kritik an der Polizei äußerte er nicht, aber dafür den dringenden Wunsch, dass sich im Umgang mit solchen Vorfällen etwas ändert. "Ich habe deshalb meinen Kreisverwaltungsreferenten gebeten, mit der Polizei zu besprechen, wie in Zukunft mit derart massenhaften Verstößen gegen geltendes Recht umzugehen ist."
Reiter betont, dass es nicht darum gehe, den Münchnerinnen und Münchnern den Protest gegen Corona-Maßnahmen zu verbieten oder zu erschweren. "Demonstrationen müssen auch in Pandemiezeiten möglich sein. Das ist ein gesetzlich verankertes und auch mehrfach von Gerichten bestätigtes Grundrecht." Doch Polonaise tanzende Menschen direkt vor dem Rathaus, aber auch die anderen Verstöße gegen die Hygieneregeln stoßen ihm übel auf. Solche Demonstranten "verhöhnen damit nicht nur die große Mehrheit der Münchnerinnen und Münchner, die sich aus Rücksicht auf ihre Mitmenschen an die zugegeben einschneidenden Maßnahmen halten. Sie gefährden auch die Gesundheit aller." Ein solches Verhalten sei nicht nur unsolidarisch, "sondern einfach unerträglich".
Die Spitzen der Rathauskoalition hatten bereits am Sonntag deutliche Kritik an der Art und Weise des Protests geübt. Der Grünen-Fraktionsvize Dominik Krause zeigte sich nicht zum ersten Mal unzufrieden über die Strategie der Polizei. Diese habe die Lage "nicht im Griff" gehabt. Im Umgang mit Corona-Skeptikern würde sie trotz der zahlreichen Verstöße immer wieder nur darauf verweisen, dass sie verhältnismäßig vorgehen wolle. Das stoße bei ihm umso mehr auf "Verständnislosigkeit", da die Polizei bei kleinsten Verstößen gegen die Corona-Regeln sogar "mit dem Zollstock" die Abstände kontrolliere.
Die Stadtratsfraktion von FDP und Bayernpartei hingegen zeigte sich "entsetzt" über die Vorwürfe: "Mal greift für die Grünen und die SPD die Polizei zu extrem ein, jetzt tut sie es zu wenig. Die Beamtinnen und Beamten zum Ziel eigener parteipolitischer Angriffe zu machen, führt an gesundem öffentlichen Diskurs vorbei", sagt der Fraktionsvorsitzende Jörg Hoffmann. Auf Twitter nennen viele Menschen das Verhalten der Münchner Polizei "hilflos" oder "peinlich". Die Verantwortlichen im Präsidium fühlen sich indes zu Unrecht kritisiert. "Besonnen und angemessen" nennt Andreas Franken, der Pressesprecher des Polizeipräsidiums München, am Montag den Einsatz. Zwei Versammlungen aufzulösen und eine weitere Versammlung zu verbieten, bedeute einen hohen Grundrechtseingriff in die Versammlungsfreiheit und könne "von polizeilicher Seite immer nur als Ultima Ratio in Betracht kommen", so das Präsidium in einer Stellungnahme. Auch die Polonaise habe man zunächst einmal als Versammlung bewerten müssen, erläutert Franken. Man habe auch diese Versammlung aufgelöst. Aber man müsse den Teilnehmern Zeit geben, der Aufforderung nachzukommen. Gut eine Stunde dauerte es am Samstag, ehe sich der Marienplatz leerte.
Und danach? "Wurden alle Verstöße gegen Hygieneauflagen erfasst und angezeigt?", fragen Menschen in den sozialen Netzwerken. Forscher der Berliner Humboldt-Universität waren im Februar in einer Studie zu dem Schluss gekommen, dass Querdenker-Demonstrationen im Herbst zu einem Anstieg der Covid-19-Infektionen beigetragen hatten.
Bis Montagnachmittag hat das Polizeipräsidium 20 Strafanzeigen und etwa 90 Ordnungswidrigkeiten-Anzeigen erstellt, unter anderem gegen einzelne "Stimmungsmacher". Auch in der Maximilianstraße "lag das Interesse der Einsatzleitung bei der Abarbeitung von (...) Ordnungswidrigkeiten auch darin, den Anwesenden bewusst die Möglichkeit einzuräumen, der polizeilichen Aufforderung, sich zu entfernen, Folge leisten zu können", heißt es in der Stellungnahme aus dem Präsidium. Die Polizei räumt aber auch ein, von der Menge der Demonstranten mit 3000 Teilnehmern überrascht worden zu sein. In München waren am Samstag zunächst 500 Beamte im Einsatz, weitere Kräfte wurden mobilisiert.
Krisengespräche zwischen Stadt, Polizeipräsidium und bayerischem Innenministerium hatte es in der Vergangenheit mehrfach gegeben, nachdem sich Demonstrierende nicht an Auflagen gehalten hatten oder die Einsatzleitung mit plötzlichen Winkelzügen überraschten (siehe unten). Ein Ministeriumssprecher kündigte am Montag an, der Einsatz werde durch das Polizeipräsidium "umfassend nachbereitet", dabei werde auch die Stadt eingebunden. "Selbstverständlich fließen die Erfahrungen vom vergangenen Wochenende in die Beurteilung solcher sich permanent verändernden Versammlungslagen mit immer neuen Provokationen von Coronaleugnern ein." Münchens Kreisverwaltungsreferent Thomas Böhle betonte auf Nachfrage, dass die Ereignisse vom Samstag bei der Beurteilung künftig eine maßgebliche Rolle spielen würden, "wenn es um das 'Ob', das 'Wie' und das 'Wo' solcher Versammlungen geht. Es erscheint sinnvoll, sich hier bei stationären Versammlungen auf weitläufige Orte außerhalb der Altstadt festzulegen."
Es dürfe nicht sein, dass am Ende die Gegner der Corona-Maßnahmen selbst den Ablauf von Versammlungen diktierten, hatte die von der Stadt eingerichtete Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (Firm) kritisiert. Dass große Herausforderungen noch bevorstehen, daran zweifelt Polizeisprecher Franken nicht. Für den 1. Mai mobilisiert die Corona-Leugner-Szene überregional für eine Großdemonstration in München.