Süddeutsche Zeitung

Umstrittene Demo auf der Theresienwiese:Wo Religion anfängt und wo sie aufhört

Juristen und Theologen diskutieren über die "Querdenker"-Kundgebung vom Sonntag. Dass diese zum Gottesdienst erklärt wurde, sei "schamlos" - darüber ist man sich zumindest im Rathaus einig.

Von Julian Hans und Anna Hoben

Wer hätte das im 21. Jahrhundert noch erwartet? Seit dem Wochenende zerbrechen sich Juristen, Politiker, Polizisten und Theologen in der Landeshauptstadt die Köpfe darüber, was ein Gottesdienst ist und was nicht.

Für die Polizei hatte am Sonntagabend ein Gitarrensolo den Ausschlag gegeben, das nach Dauer und Lautstärke einfach nicht zu einem Gottesdienst gepasst hätte, zumal am stillen Feiertag Allerheiligen. So ist es aus dem Polizeipräsidium zu hören. Daher erklärte die Einsatzleitung die Veranstaltung der sogenannten "Querdenker" um kurz vor 19 Uhr für beendet, die eigentlich um 16.30 Uhr als Kundgebung hätte beginnen sollen und dann von den Veranstaltern kurzfristig in eine religiöse Feier umgewidmet worden war.

Für die Kundgebung hatte das Kreisverwaltungsreferat (KVR) aufgrund des Infektionsschutzes strenge Hygieneregeln erlassen; unter anderem galt eine Begrenzung auf 1000 Teilnehmer. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hatte diese Auflagen am Sonntag in letzter Instanz für angemessen erklärt. Durch ihre plötzliche Umwidmung schlugen die Gegner der Corona-Maßnahmen Justiz und Verwaltung ein Schnippchen.

Seitdem läuft die Aufarbeitung, und zumindest in einem Punkt sind sich alle einig: Ein zweites Mal darf diese Überrumpelungstaktik nicht funktionieren. "Wir sind intensiv dabei, uns das rechtlich anzuschauen", sagte Polizeisprecher Andreas Franken am Montag. Künftig werde man sich "sämtliche Versammlungslagen unter diesem Gesichtspunkt im Voraus ansehen". Der stellvertretende Sprecher des bayerischen Innenministeriums, Michael Siefener, erklärte laut der Nachrichtenagentur KNA, die vom Veranstalter vorgenommene Umwidmung habe mit Religionsausübung nichts zu tun. Polizei und Versammlungsbehörden würden künftig solche "Ablenkungsmanöver von Beginn an unterbinden".

Der Einsatz auf der Theresienwiese werde "behördenintern eingehend nachbereitet". Die Rechtslage sei ziemlich eindeutig, sagt Walther Michl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik und Öffentliches Recht der LMU: "Ich kann nicht einfach behaupten, das ist jetzt ein Gottesdienst, und damit alle Auflagen umgehen". Michl erinnert an den Fall der "Kirche vom Fliegenden Spaghettimonster", deren Anhänger durch alle Instanzen durchsetzen wollten, als Kirche anerkannt zu werden. Vor zwei Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht den Fall in letzter Instanz abschlägig. "Für einen Gottesdienst braucht es auch eine gemeinsame, übergeordnete Gottheit", sagt Michl. Die hätten die selbsternannten Querdenker am Sonntag schwerlich von einem Moment auf den anderen etablieren können. "Ich gehe davon aus, dass die Querdenker mit diesem Argument nicht noch einmal Erfolg haben werden", sagt Michl.

Die Frage, wo Religion anfängt und wo sie aufhört, ist ein Standardproblem in der Rechtswissenschaft. Grundsätzlich gilt hier das Prinzip, dass religiöse Gemeinschaften sich selbst als solche definieren können. Allerdings verläuft da eine Grenze, wo Religion nur vorgeschoben ist, um sich damit Vorteile zu verschaffen.

Ein starkes Indiz dafür dürfte im Falle der Querdenker sein, dass sie ursprünglich eine Kundgebung angemeldet hatten und erst dann einen Gottesdienst, als klar war, dass die Auflagen für die Kundgebung nicht erfüllt wurden.

"Ich kann Herrn Fliege nicht vorschreiben, wo er auftritt"

Die Evangelisch-Lutherische Kirche distanzierte sich am Montag von der Veranstaltung, bei der der ehemalige evangelische Pastor und Talkshow-Moderator Jürgen Fliege als Prediger aufgetreten war. "Ich kann Herrn Fliege nicht vorschreiben, wo er auftritt", sagte der Münchner Stadtdekan Bernhard Liess. Dieser habe sich aber in den vergangenen Jahren "in vielen Punkten von unserer Kirche entfernt". Es sei "völlig legitim, die Maßnahmen der Bundesregierung in der Corona-Krise zu kritisieren", betonte Liess. Vergleiche mit dem Nationalsozialismus seien aber "völlig unangebracht", sagte er.

"Ob das Anliegen unseres Grundgesetzes bei der Initiative Querdenken in den richtigen Händen ist, wage ich zu bezweifeln, wenn Teilnehmer andernorts mit Hitlergruß und Antisemitismus auffallen". Eine Demonstration in einen Gottesdienst umzuwandeln, in dem dann Aussagen fielen wie die, dass wir in einem Regime der Angst lebten, "das halte ich persönlich für geschmacklos und für einen Missbrauch des eigentlichen Anliegen eines Gottesdienstes".

"Es ärgert mich maßlos, dass Querdenker das Grundrecht auf Glaubensfreiheit missbrauchen"

Kritische Stimmen gab es auch aus dem Rathaus. "Es ist entlarvend, wie schamlos ausgerechnet angebliche Verteidiger der Grundrechte das Grundrecht auf Religionsfreiheit missbrauchen, um Demonstrationsauflagen auszuhebeln", sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). "Auflagen, die zum Schutz der Gesundheit - also dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - der Münchnerinnen und Münchner verhängt wurden und von unabhängigen Gerichten ausdrücklich bestätigt worden sind". Ähnlich äußerte sich Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne). "Es ärgert mich maßlos, dass die Querdenker das Grundrecht auf Glaubensfreiheit missbrauchen, um Gerichtsentscheidungen zu umgehen", sagte sie. "Das ist respektlos gegenüber religiösen Menschen und auch unsolidarisch mit allen, die sich an die Regeln halten und damit zur Eindämmung der Pandemie beitragen."

Die Vertreter der Regierungsfraktionen im Stadtrat gingen indes mit ihrer Kritik über die Finte der Demo-Organisatoren deutlich hinaus und stellten die Sonderstellung der Gottesdienste in Frage. Grünen-Fraktionschef Florian Roth sagte, das Geschehen sei "doppelt fragwürdig" gewesen. Zum einen, was das Verhalten der Demonstranten betreffe, zum anderen aber auch im Hinblick auf die Hilflosigkeit der Behörden. Einerseits hätten die Kritiker der Corona-Maßnahmen mit ihrer Aktion am Sonntag aus seiner Sicht "das Religionsprivileg missbraucht", indem sie versucht hätten, den Regeln mit juristischen Tricks auszuweichen. Andererseits hätten sie eben auch eine Schwachstelle getroffen: dass manches uneinheitlich geregelt sei. Die Einschränkungen zur Pandemie-Eindämmung seien aber nur dann nachvollziehbar, wenn sie den Menschen gerecht erscheinen.

SPD-Fraktionschefin Anne Hübner erklärte, Regelungen müssten "nachvollziehbar bleiben". Es sei schwer zu verstehen, warum es bei Gottesdiensten im Freien keine Teilnehmerbegrenzung gebe. Dies sei von den Demonstranten "schamlos ausgenutzt" worden. Es müsse sichergestellt werden, "dass diese Regelungslücken geschlossen werden", damit sich eine solche Situation nicht wiederhole.

Als "dreist" bezeichnete CSU-Fraktionschef Manuel Pretzl die Aktion. Noch dazu hätten die Veranstalter die besondere Stellung von Gottesdiensten ausgerechnet an Allerheiligen missbraucht. Laut Polizei hätten viele Teilnehmer keinen Mund-Nasen-Schutz getragen. "Derartige Verstöße müssen streng verfolgt werden."

Ganz sind die Organisatoren mit ihrem Winkelzug indes nicht aus dem Schneider: Auch ein Gottesdienst auf einem öffentlichen Platz hätte angemeldet werden müssen. Die Veranstalter hätten ein Hygienekonzept gebraucht. Nichts davon lag vor. Die Polizei hat Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz gestellt.

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SZ vom 03.11.2020/infu
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