Süddeutsche Zeitung

Antikörper-Studie in München:Viermal so viele Corona-Infizierte wie gemeldet

Bei der ersten Welle im Frühjahr haben sich offenbar deutlich mehr Münchner mit dem Coronavirus angesteckt, als Fälle registriert wurden. Das geht aus einer Studie der LMU hervor, die auch zukunftsweisend sein könnte.

Von Stephan Handel

Während der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr haben sich offenbar deutlich mehr Menschen in München mit dem Coronavirus angesteckt als offiziell registriert. Das ist das Ergebnis einer großen Antikörper-Studie des Tropeninstituts der LMU, die am Donnerstag vorgestellt wurde. Sie ergab, dass der Anteil der tatsächlich Infizierten rund viermal höher lag als jener der positiv Gemeldeten.

Für die Studie wurden rund 3000 Münchner Haushalte repräsentativ, aber zufällig ausgewählt. Den dort Wohnenden wurden Blutproben abgenommen - sofern sie einverstanden und älter als 14 Jahre waren. So kam eine Testgruppe von 5313 Teilnehmern zusammen.

In den Monaten, in denen die Untersuchungsteams in München unterwegs waren, registrierte das Gesundheitsamt der Stadt 6584 Infektionen - ein Anteil von 0,4 Prozent der Stadtbevölkerung. Schon damals wurde vermutet, dass es eine hohe Dunkelziffer geben könnte, denn nicht jeder Infizierte entwickelt auch Symptome. Die LMU-Studie versuchte, Licht in dieses Dunkel zu bringen, indem sie ihre Probanden auf Antikörper untersuchte. Diese zeigen an, ob der Körper versucht hat, sich gegen einen Eindringling zu wehren. Antikörper sind auch nach Abklingen der Infektion noch vorhanden. Durch die Tests und verschiedene statistische Methoden fanden die LMU-Forscher heraus, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten wohl bei etwa 1,8 Prozent liegt - das würde also bedeuten, dass rund 25 000 Münchner die Infektion durchgemacht haben, auch wenn viele vielleicht nichts davon bemerkten.

Die Zahlen des derzeitigen Covid-Geschehens nun einfach mit vier zu multiplizieren, um so die tatsächliche Zahl der Infizierten zu erhalten - das sei aber nicht möglich, sagt Michael Hölscher, Leiter des Tropeninstituts und der Studie. "Dass momentan sehr viel mehr getestet wird als im Frühjahr, muss man natürlich mit einberechnen." Dies sei den Statistikern, die an der Studie mitgearbeitet haben, durchaus möglich - und so liefere die Arbeit wertvolle Erkenntnisse für die jetzige Situation, so Hölscher, "um die Durchseuchung in der Bevölkerung zu verstehen, bessere Vorhersagen über die Auslastung des Gesundheitssystems zu machen, die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zu überprüfen und die vom Virus ausgehende Sterblichkeit abzuschätzen".

Um die Sterblichkeitsrate zu überprüfen - sie wird immer wieder herangezogen, um die Gefährlichkeit des Virus zu relativieren oder zu leugnen -, haben die Forscher die sogenannte Übersterblichkeit in den Monaten März bis Juni betrachtet, also das Mehr an Toten im Vergleich zu den gleichen Zeiträumen der Vorjahre, und sie mit der Zahl der offiziellen Corona-Toten verglichen. Die beiden Kurven liegen fast deckungsgleich übereinander, beide mit einem Höhepunkt gegen Ende April, Anfang Mai. "Es gibt für diese Übersterblichkeit keine andere vernünftige Erklärung als das Virus", sagt Michael Hölscher, und: "Das zeigt auch, dass die Ärzte in den Kliniken supergut zugeordnet, registriert und gemeldet haben."

Die Sterblichkeitsrate einigermaßen sinnvoll zu berechnen, war bislang auch schwierig, weil eine grundlegende Zahl, eben die der tatsächlich Infizierten, mehr oder weniger unbekannt war - bei gleichbleibender Zahl der Todesfälle, aber höherer Infizierten-Zahl, geht die Sterblichkeitsrate nach unten. Ausgehend von den Antikörper-Befunden in der Testgruppe und den gemeldeten Todesfällen errechnet die Studie eine Sterblichkeitsrate von 0,76 Prozent - das heißt, dass von 10 000 Infizierten 76 sterben. "Das ist um ein Vielfaches höher als die Rate bei saisonalen Grippe-Infektionen", sagt Michael Hölscher.

"Dort bewegt sie sich im Promillebereich." Bei der Zusammenstellung der Testgruppe wählten die Forscher bei Mehrfamilienhäusern pro Stockwerk eine Wohnung und ihre Bewohner aus - mit einem weiteren interessanten Ergebnis: Kam es zu einer Infektion, dann verbreitete sich diese nicht nur innerhalb des betroffenen Haushalts, eine leichte Häufung war auch in dem Wohnhaus und in einem Umkreis von bis zu 200 Metern festzustellen. "Das heißt nicht, dass die Menschen absichtlich ihre Nachbarn anstecken", sagt Hölscher. "Aber sie gehen in dieselben Geschäfte und dieselben Lokale - die Infektion geschieht über das soziale Umfeld." Und: Weder Alter noch Geschlecht, nicht einmal bereits vorhandene Atemwegsallergien scheinen das Risiko eine Corona-Infektion zu erhöhen oder zu verringern.

Hinweis der Redaktion: In diesem Beitrag hat eine Zahl bei einigen Lesern Irritationen ausgelöst. Professor Dr. Michael Hölscher, Leiter des Tropeninstituts der Ludwig-Maximilians-Universität München, wird mit der Aussage zitiert, die Sterblichkeit bei einer Covid-19-Erkrankung liege "um ein Vielfaches höher als bei saisonalen Grippe-Infektionen". Seine Studie habe eine Sterblichkeitsrate von 0,76 Prozent bei Covid-19 ermittelt, bei der Grippe liege sie hingegen "im Promillebereich". Hölscher bezieht sich bei seinem Grippe-Vergleich auf die Schweinegrippe-Pandemie von 2009/2010 - damals wurde tatsächlich eine Sterblichkeitsrate zwischen 0,001 und 0,01 Prozent der Erkrankten festgestellt. Der damalige Schweinegrippe-Ausbruch wird von Wissenschaftlern bevorzugt als Referenzgröße verwendet, weil er im Gegensatz zu den sonstigen jährlichen Grippewellen gut dokumentiert ist. Bei letzteren beruhen die Todeszahlen auf Schätzungen, weil nur wenige Sterbefälle explizit als auf die Influenza zurückzuführen gemeldet werden.

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SZ vom 06.11.2020/mmo
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