Comics in München:Die Protagonisten unserer Stadt

Kompass Comic: Grafic Novel 
"Wir gehören dem Land" von Joe Sacco, Geschwister-Scholl-Preisträger 2021
Veröffentlichung honorarfrei nur in Zusammenhang mit dem Buch/dem Preis

Heiden, die errettet werden müssen: Joe Sacco dokumentiert in seinem Buch "Wir gehören dem Land" den organisierten Missbrauch von Kindern der indigenen Bevölkerung Kanadas durch die katholische Kirche.

(Foto: Joe Sacco/Edition Moderne)

Mit Joe Saccos Reportage "Wir gehören dem Land" wird erstmals ein Comic mit dem Geschwister-Scholl-Preis geehrt. Auch andere engagierte Zeichnerinnen und Zeichner präsentieren in München ihre Arbeiten. Ein Überblick.

Von Jürgen Moises und Jutta Czeguhn

Ein Volk verschwindet

Joe Sacco wollte einfach weg vom "Conflict reporting", das ihn schon nach Bosnien, Gaza oder Israel geführt hat. Ein neues Thema schien ihm nun dringlich, die Klimakrise, die Ausbeutung von Ressourcen. In aller Welt wollte der amerikanische Pionier des Comic-Journalismus darüber recherchieren. Sein Plan: Ich starte einfach um die Ecke in Kanada, wo man meine Sprache spricht. Falsch gedacht, es wurde sehr kompliziert. Vier Jahre sollte es dauern, bis Saccos Reportage "Paying the Land" (deutsch: "Wir gehören dem Land", Verlag Edition Moderne) erschien, für die er in diesem Jahr den Geschwister-Scholl-Preis bekommt. Erstmals in der Geschichte des Preises wird ein Comic ausgezeichnet. Das Buch handelt von Landraub, ungebrochenem Kolonialismus, von den Verbrechen an der indigenen Bevölkerung, dem Verschwinden ihrer Kultur und Sprache. Auf 260 Seiten erzählt Sacco so anschaulich, dass man beim Lesen oft pausieren muss. Da ist eine enorme Intensität, ein Detailreichtum in Schraffurtechnik, eine Flut an Informationen. Sacco ist ganz dicht dran.

Zusammen mit der ortskundigen Umweltaktivistin Shauna Morgan hat er im Pickup-Truck die Nordwest-Territorien Kanadas bereist. Er hat Menschen vom Volk der Dene getroffen, die überzeugt sind: "Das Land gehört nicht uns, wir gehören dem Land". Sie haben ihn von einem zum nächsten gereicht. Sacco hört ihnen zu, notiert, fotografiert, macht Skizzen, studiert Archive über die First Nations. Eine sehr langsame, gründliche, geschichtssensible Art des Journalismus. Sacco zitiert viele Zeitzeugen, dokumentiert die Riten ihrer Ahnen, die Ausbeutung der Gold-, Öl- und Gasvorkommen, die im Land der Jäger und Fallensteller krasse Wunden schlägt. Ein Turbo-Kapitalismus, der ihnen zwar Arbeit und bessere Schulen, aber auch Alkoholismus und Gewalt bringt. Dabei versucht er, objektiv zu sein, Zeichnungen aber, so weiß er, sind immer subjektiv. In diesem Spannungsbereich arbeitet ein Comic-Journalist - und Künstler. Oft zeichnet sich Joe Sacco selbst ins Bild, weil er sein Tun auch hinterfragt. Ist am Ende sein Erzählen über die Dene auch eine Form von Kolonialismus?

Joe Sacco, "Wir gehören dem Land", Edition Moderne, die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises wird vom 29. Nov. verschoben auf den 9. Mai 2022.

Klaustrophobe Bilderkammern

Kompass Comic: Grafic Novel Lukas Kummer "Der Atem", nach Thomas Bernhards "Autobiografischen Schriften", 
honorarfreie Veröffentlichung nur in Zusammenhang mit dem Buch

Überleben im Sterbezimmer: Lukas Kummer hat Thomas Bernhards "Autobiografische Schriften" in eine karge, eindringliche Bildsprache übersetzt, hier eine Klinikszene aus dem Band "Der Atem".

(Foto: Lukas Kummer/Residenz Verlag)

Schwarz, weiß, grau, grauer, dunkelgrau... Wer möchte schon in den Kopf von Thomas Bernhard kriechen, diesem konsequentesten und sensibelsten aller Hassbegabten. Lukas Kummer hat es furchtlos getan. Und ist quasi Wiederholungstäter. Mit "Atem" hat der Tiroler Zeichner, Jahrgang 1988, bereits seine dritte Comic-Adaption von Bernhards insgesamt fünfbändigen "Autobiographischen Schriften" vorgelegt. Wieder geht es um alles für den Ich-Erzähler, der seine Internatskindheit im braunen Salzburg nun hinter sich gebracht hat. Wir begegnen ihm jetzt, wie er mit hochentzündeter Lunge in einem Hospital liegt. Schon hat man ihn ins Sterbezimmer zwischen all die anderen Todgeweihten geschoben. Doch ausgerechnet dort erwacht sein Überlebenswille. Die Monotonie und Wiederholungsmanie in Bernhards Sprache, die scheinbar kalte Beobachtungsgabe - Lukas Kummer findet dafür eine kongeniale Strategie. So ziehen sich Bernhards Satzwürste manchmal ganzseitig über ein Stockwerk kleiner, streng gleichformatiger, klaustrophober Bilderkammern, die motivisch nur in winzigen Details variieren. Die Figuren sind gesichtslos wie Schatten, man kommt ihnen nicht nahe. Wie auch, denn auch das Erzähler-Ich hält Abstand zu sich selbst. Am Ende sieht man ihn, von Verzweiflung gebeugt, im Dunkel verschwinden. Mit einer Fahrkarte für die nächste Reise. Band vier trägt bei Bernhard den Titel "Die Kälte".

Lukas Kummer, "Der Atem", Residenz Verlag. Der Autor ist am Mittwoch, 24. November, 19 Uhr, Gast bei der Münchner Bücherschau, Black Box im Gasteig. Saal- und Digital-Tickets unter www.muenchenticket.de.

Rätselhafte Erscheinungen

Kompass Comic: Grafic Novel "Come Daybreak" Dorothea Erber

Die Sonne zeigt sich nicht mehr: Die Welt ist in Unordnung geraten in Dorothea Erbers Comic "Come Daybreak".

(Foto: Dorothea Erber/Reinhard Weber)

Die Welt, sie scheint sich aufzulösen. Auch die Menschen, sie sind plötzlich nicht mehr da. Verloren gegangen ist zudem das Zeitgefühl. Ist heute Montag, Dienstag, Mittwoch? Die Erfahrungen, welche die weibliche Hauptfigur im Comic "Come Daybreak" von Dorothea Erber erlebt und schildert, sie wirken im Corona-Alltag irgendwie vertraut. Mit der aktuellen Pandemie haben sie aber allenfalls nur indirekt zu tun. Denn die Idee zu der Geschichte, die hatte die Zeichnerin aus Landshut schon vorher. Und so geht es auch nicht um ein Virus in Erbers Comic, der mit seiner reduzierten Farbpalette stark auf Atmosphäre und Stimmungen setzt, sondern um rätselhafte Erscheinungen, zu denen unter anderem das Verschwinden der Sonne gehört.

Erschienen ist "Come Daybreak" in diesem Jahr im Reinhard-Weber-Fachverlag für Filmliteratur aus Landshut, der zuvor eher für Bücher über Karl-May-Filme, Regisseure oder Schauspieler bekannt war. Für dieses Wagnis, die Verlagspalette um das Genre Comic zu erweitern, wurde Reinhard Weber im Oktober belohnt. Wurde "Come Daybreak" doch als eines von zehn Büchern auf die vom Freistaat herausgegebene Empfehlungsliste "Bayerns beste Independent Bücher 2021" gesetzt. Bei einem "Markt der unabhängigen Verlage" sollte dazu am 27. November eine Podiumsdiskussion im Literaturhaus stattfinden; Markt und Gespräch sind abgesagt.

Dorothea Erber, "Come Daybreak", Verlag Reinhard Weber.

Verlebendigte Geschichte

Kompass Comic: Comiczeichnerin Barbara Yelin findet für  Mascha Kalékos Gedicht "Kein Kinderlied" in düstere Bilder " in: Nächstes Jahr in
Comics und Episoden des jüdischen Lebens

Meike Heinigk / Antje Herden / Jonas Engelmann (Hg.) / Jakob Ho

Gefühl der Verlorenheit: Barbara Yelin findet im Comic-Band "Nächstes Jahr in ..." atmosphärisch dichte Bilder für Mascha Kalékos Dichtung.

(Foto: Barbara Yelin/Ventil-Verlag)

Bereits mit sieben floh Mascha Kaléko mit ihren Eltern aus Galizien nach Deutschland, wo sie in Berlin eine neue Heimat fand. Diese musste sie 1938 als Jüdin abermals verlassen. Sie emigrierte mit ihrem Ehemann nach New York und 1960 dann nach Jerusalem. Das Gefühl der Verlorenheit, das die Dichterin ihr Leben lang empfand, spiegelt sich in "Kein Kinderlied" wieder. "Wohin ich auch reise, ich fahr nach Nirgendland" heißt es in dem Gedicht, das die Münchner Comic-Autorin Barbara Yelin für die Anfang November im Ventil-Verlag erschienene Anthologie "Nächstes Jahr in... Comics und Episoden des jüdischen Lebens" in atmosphärisch dichte Bilder übersetzt hat. Auch von Hannah Brinkmann gibt es darin einen Beitrag, in dem sich die Hamburgerin mit der Jüdischen Berufsfachschule Masada in Darmstadt beschäftigt.

Dass sie verdrängte oder vergessene Geschichte(n) auf eindrückliche Art visuell wieder lebendig machen können, haben Yelin und Brinkmann zuvor schon mit ihren an die eigenen Familiengeschichten andockenden Comics "Irmina" und "Gegen mein Gewissen" bewiesen. Darin geht es um eine Mitläuferin in der NS-Zeit und einen Kriegsdienstverweigerer in den Siebzigerjahren. Über ihre Arbeit und die Möglichkeiten des Mediums Comic sprechen die beiden mit Niels Beintker am 3. Dezember im Literaturhaus. Mit "Multidirektionales Erinnern mit Graphic Novels" ist die Veranstaltung überschrieben, zu der auch Paula Bulling eingeladen ist. Von ihr stammen die Zeichnungen im Comic "Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU".

Multidirektionales Erinnern mit Graphic Novels, Freitag, 3. Dez., 20 Uhr, Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Saal- und Streamtickets: www.literaturhaus-muenchen.de.

Heimliches Begehren

Kompass Comic: Matthias Lehmann: Parallel. Graphic Novel. Reprodukt Verlag, Berlin 2021

Verbotenes Begehren: Matthias Lehmann erzählt in seinem Schwarz-Weiß-Comic "Parallel" vom Schwulsein im Nachkriegsdeutschland.

(Foto: Matthias Lehmann/Reprodukt Verlag)

Er hat eine Frau, ein Kind, sein Schwiegervater hat ihm einen guten Job verschafft. Und trotzdem fehlt im Leben von Karl Kling etwas. Er bricht immer wieder aus dem Alltag aus, lernt einen Mann beim Schwimmen kennen, er schläft mit ihm und muss bald miterleben, wie sein Leben auseinanderbricht. Diese Geschichte wird sich bald auf ähnliche Weise wiederholen, weil Kling seine Homosexualität nicht einfach abstreifen kann, er aber trotzdem ein "normales" Leben führen will. Mit der Folge, dass er Familie und Freunde belügt und sein paralleles Leben vor fast allen verheimlicht. "Parallel" heißt der beeindruckende Schwarz-Weiß-Comic von Matthias Lehmann, der hier in weiten Teilen das Leben des Großvaters seiner Freundin nacherzählt. Dieser war homosexuell und zweimal verheiratet.

Innerhalb der Familie wurde über dieses Thema nie gesprochen. Deshalb hat Lehmann dieses stellvertretend für viele ähnliche Schicksale stehende Leben mit Hilfe von Literatur, Dokumentationen und einem Zeitzeugen rekonstruiert. Den roten Faden des Buches bildet ein Brief, den Kling an seine Tochter schreibt. Kling ist inzwischen in Rente, hat viele Jahre als Werksarbeiter und viele demütigende Erfahrungen im schwulenfeindlichen Nachkriegsdeutschland hinter sich. Am 15. Dezember stellt Matthias Lehmann "Parallel" im Literaturhaus vor.

Matthias Lehmann, "Parallel", Reprodukt-Verlag. Der Autor ist am Mittwoch 15. Dez., 20 Uhr, zu Gast beim "Weihnachtsmix" im Literaturhaus, www.literaturhaus-muenchen.de.

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