Süddeutsche Zeitung

Verkehr in München:Eine "Anti-Stau-Gebühr" ist der falsche Weg

Gleich nach dem Wohnungs- kommt in München das Verkehrsproblem. Doch die vorgeschlagene City-Maut ist vor allem ungerecht.

Kommentar von Max Hägler

Das (Nicht-)Vorankommen in München ist ein Desaster, das in seiner Dringlichkeit gleich hinter der furchtbaren Wohnungsnot rangiert: Die Liste der Straßen, auf denen zwischen acht Uhr in der Früh und acht Uhr abends kaum etwas vorangeht, wird immer länger. Alle hängen fest, selbst Radfahrer und Busse, ein Ende ist kaum absehbar, im Gegenteil: etwa 150 000 Autos kamen in den vergangenen zwei Jahrzehnten dazu; Ende 2019 waren fast 730 000 angemeldet. Dass die Durchschnittslänge eines Autos auf mittlerweile 4,41 Meter gestiegen ist - beinah auch schon egal.

Es braucht offensichtlich ein ganz großes regulatorisches Werkzeug, um den Verkehr zu entzerren. Jenes, das nun das Institut für Wirtschaftsforschung vorschlägt, hätte große Schlagkraft - und ist trotzdem das falsche. Die Wissenschaftler packen mit Kollegen des Instituts Intraplan und unterstützt von der Industrie- und Handelskammer mal wieder die City-Maut aus - leider in der unterkomplexen Version. Würde das Fahren in der Stadt etwas kosten, würden weniger dort fahren. Die Ifo-Ableitung ist schlicht: Sechs Euro pro Tag soll jeder Autofahrer zahlen, jeder, ohne Ausnahmen. 23 Prozent weniger Autos wären die Folge.

Das gravierende Problem ist die soziale Ungerechtigkeit. Ein beinahe plattes Gedankenspiel offenbart das: Die ältere Dame aus dem Glockenbachviertel mit kleiner Rente und angestaubtem Kleinwagen muss genau so viel zahlen wie der Konzernmanager mit sechsstelligem Gehalt, der aus seiner grünen Vorstadt im Elektro-SUV zum Einkaufen will? Das kann in einer Stadt, in der die sozioöknomische Spaltung immer schmerzhafter wird, nur falsch sein. Und der von den Forschern angedachte Ausgleich ist ungenügend.

Das bedeutet nicht, dass der Autoverkehr in der Stadt kostenlos bleiben soll. Bepreisung ist richtig, denn so kann es nicht weitergehen. Wer Lösungen sucht, sollte den Blick heben, sich bestehende Maut-Modelle kritisch ansehen: London, Stockholm oder Mailand etwa. Die Systeme sind unterschiedlich, aber Vergleichsstudien warnen davor, "vulnerable Gruppen" und insgesamt die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick zu verlieren. Straßen sind für alle da. Es braucht mehr Kreativität, um sie wieder frei zu bekommen, zum Wohle aller. Eine Pauschale für alle, das muss nicht sein in Zeiten der Digitalisierung. Eine Gebühr, nach Einkommensteuer und Kfz-Steuer gestaffelt, ist heutzutage nicht mehr unmöglich. In einer App etwa wären die nötigen Daten leicht zu hinterlegen. Will die Stadt das Fortbewegen nicht sowieso neu denken als neuer Austragungsort der Internationalen Automobil-Ausstellung? Zeit wird's!

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Quelle:
SZ vom 15.09.2020
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