Chinesischer Nationalcircus in München:Ritt auf der Rasierklinge

Lesezeit: 3 Min.

Jonglage in dem Acrobatical "China Girl - Liebe ist stärker als Blut". Ein Mix aus Artistik, Tanz und Clownerie, zu live interpretierten Songs von David Bowie. (Foto: Chinesischer Nationalcircus)

Der Chinesische Nationalcircus gastiert mit "China Girl" im Deutschen Theater. Produzent Raoul Schoregge sucht seit 20 Jahren seine Artisten in China - und spricht über seine Erfahrungen.

Von Barbara Hordych

Kunst und Politik sind nicht zu trennen. "Selbst wenn ich bewusst entscheide, mich nicht politisch zu äußern, ist das eine Aussage". Erklärt einer, der seit mehr als 20 Jahren einen "Ritt über der Rasierklinge" vollführt. Raoul Schoregge, aufgewachsen im Münsterland, in Spanien zum "Clown Correggio" ausgebildet, managt als Regisseur und Produzent den Chinesischen Nationalcircus. Der gastiert am 22. Februar mit "China Girl - Liebe ist stärker als Blut", einem "Acrobatical" aus Tanz, Akrobatik, Clownerie und Live-Interpretationen von David-Bowie-Songs im Deutschen Theater.

Im Mittelpunkt steht das Mädchen Dou Dou, das bei seiner Großmutter in China aufwächst und mit 18 Jahren zu seiner Familie nach New York, nach Chinatown, reist. Ausgerechnet in Roberto, einen Jungen aus Little Italy, verliebt sie sich, was zu einem Drama in Romeo-und-Julia-Manier führt, denn in den Communities hat man eigentlich strikt unter sich zu bleiben.

Zunächst einmal gilt es mit dem Missverständnis aufzuräumen, wonach der Chinesische Nationalcircus ein Staatsbetrieb ist. "Das ist er nicht", sagt Schoregge. Vielmehr stehe der Begriff für die 56 unterschiedlichen Nationalitäten in China. "Unser Ensemble ist eine Sammlung von ,Outlaws' aus den verschiedensten Gruppen Chinas; wenn ich es mit einer Schulmetapher beschreibe: Sie waren immer Klassenbeste, aber ein wenig punkig", sagt Schoregge.

Liebe, die in die Höhe führt: "China Girl" überträgt Shakespeares Tragödie "Romeo und Julia" nach New York City in der Jahrtausendwende. (Foto: Chinesischer Nationalcircus)

Apropos Schulen. Sind das in China nicht eher Ausbildungsstätten für "Menschenmaterial"? Schoregge möchte da differenzieren. Natürlich gebe es in China die "schwarzen Schafe". Das weiß er von seinen regelmäßigen Besuchen dort, die er gemeinsam mit seiner auch für ihn dolmetschenden Choreografin Sun Qing Qing unternimmt. "Sie ist mein Seismograph", sagt Schoregge. Was heißt das? "Sie riecht Angst. Wenn wir auf Talentsuche in den Akrobatikakademien unterwegs sind, kann sie mir genau sagen: Hier wird mit Strenge gearbeitet, aber es ist in Ordnung. Und dann gibt es diese Kaderschmiede-Situation, in der so viel Druck auf die Menschen ausgeübt wird, dass wir sie sofort wieder verlassen."

Sun Qing Qing wurde in Tianjin geboren und in der Kunst der Kontorsion als "Verbiegekünstlerin" ausgebildet. Und sie hat Schoregge von einem prägenden Erlebnis erzählt: Ihr sei beim Balancieren ein Glas heruntergefallen und zerbrochen. Als ihre Freundinnen herbeieilten, um die Scherben wegzuräumen, sei die Trainerin dazwischengegangen: Sie musste die Darbietung zu Ende bringen - auf den Scherben. "Das klingt für uns natürlich fürchterlich", sagt Schoregge. Aber dann sei ihm bei seinen Reisen nach China aufgefallen, dass seine Dolmetscherin immer ein Geschenk dabei habe - für ihre Besuche bei eben dieser Lehrerin. Als Schoregge sie zur Rede stellte, sagte sie: "Ja, sie war hart. Aber alles, was ich kann, habe ich von ihr gelernt. Seitdem weiß ich, was es bedeutet, Sachen bis zum Ende durchzuziehen".

Das Konzept des Chinesischen Nationalcircus - hier eine Impression aus der aktuellen Show "China Girl" - übernahm Raoul Schoregge vor über zwanzig Jahren von André Heller. (Foto: Chinesischer Nationalcircus)

Unterwegs auf Talentsuche in China - wie geht das vonstatten? Dazu muss Schoregge länger ausholen. Als er das Konzept des Chinesischen Nationalcircus vor mehr als zwanzig Jahren von André Heller übernahm, hatte er bei seinen Besuchen strikte Regeln zu beachten: "Ich musste im Kulturministerium meine Ideen vorlegen, genau erläutern und genehmigen lassen; dazu verfolgten diese Herren in schwarzen Anzügen, ich nenne sie mal ,Aufpasser', jeden meiner Schritte."

Das änderte sich im Zuge der Öffnungs- und Reformpolitik Deng Xiao-pings, die den Menschen wieder mehr Raum ließ für individuelle Tätigkeiten. "Für mich bedeutete das, dass auf einmal die Aufpasser weg waren, ich mich freier bewegen konnte", sagt Schoregge. Und nun, unter Staatschef Xi Jinping? "Eine bedauerliche Entwicklung, die ich als sehr rückwärtsgewandt empfinde", sagt Schoregge.

Plötzlich waren all seine Kontaktleute "ausgewechselt", bis hinauf zum Staatssekretär, auf den ein "Hardliner" folgte. "Wenn man sich nur ein wenig mit chinesischer Kultur und Politik beschäftigt hat, weiß man, dass das eine Jahrtausende alte Tradition ist: Wenn ein Kaiser starb, wurden die Landlords ausgewechselt, wenn nicht gar umgebracht, daran hat China immer festgehalten". Auf einen Schlag waren seine über Jahre aufgebauten "Guanxi", das Netzwerk guter persönlicher Beziehungen, ohne das in China gar nichts laufe, weg.

Aber Schoregge ist hartnäckig. "Um im Bild zu bleiben: Meine Ausbildung bei meinem spanischen Clownslehrer bestand darin, mich mit zwei Eimern Wasser über die Scherben zu schicken, zweimal rund um das Zirkuszelt", sagt Schoregge. Überhaupt vertrete er die Ansicht, dass es besser sei, im Austausch zu bleiben, "den Tiger vom Berg zu holen", wie eines der Strategeme in Sun Tses berühmtem Handbuch "Die Kunst des Krieges" empfiehlt. Schon immer habe der kulturelle Austausch ein Feld bereitet für die politische Diplomatie. "Denken Sie nur an den weltberühmten russischen Clown Oleg Popow, der mitten im Kalten Krieg die Menschen im Westen begeisterte", sagt Schoregge.

In der aktuellen Show "China Girl" betritt Raoul Schoregge (rechts) als Clown "Correggio" die Bühne: beispielsweise in der Slapstick-Nummer Polizist und Pope mit Joanes Diacoyannis. (Foto: Chinesischer Nationalcircus)

Deshalb bedauert er auch die Haltung der westlichen Staatsmächte den Olympischen Winterspielen in Peking gegenüber. "Die Absagen halte ich für töricht. Man kann Kritik üben. Aber ich würde immer raten, solche Einladungen anzunehmen. Es ist so, als wenn man eine Klassenparty boykottiert und sich nachher wundert, dass die Beziehungen sich verschlechtert haben". Man könne seine Haltung als "naiv" bezeichnen. "Aber ich bin Clown und Künstler. Ich setze auf den Austausch zwischen den Menschen".

Momentan gilt es für Schoregge eine ganz andere Schlacht zu schlagen: Die für die Kultur. "Sie wurde den Menschen in der Pandemie regelrecht abgewöhnt, wir müssen sie erst wieder zurückholen. Das ist kompensationswürdig, und da bleibt für mich die Verantwortung des Staates auch in der Phase der ausklingenden Pandemie ganz klar noch bestehen."

China Girl - Liebe ist stärker als Blut, Dienstag, 22. Februar, 20 Uhr, Deutsches Theater

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSchauspieler, Dramatiker, Autor
:"Ich habe mir einfach eine ganze Menge Erinnerungen weggesoffen"

Franz Xaver Kroetz schreibt nun Gedichte statt Theaterstücke. Ein Gespräch über das Alter, Reue und die Momente des Glücks.

Interview von Philipp Crone

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: