Neuer Caritas-Chef:Die Schwächsten im Blick behalten

Dr. Hermann Sollfrank, 2021

Hermann Sollfrank, bisher Präsident der Katholischen Stiftungshochschule, wird neuer Caritas-Chef. Im Rupert-Mayer-Haus in der Nähe des Hauptbahnhofs erwartet ihn eine Büste des Jesuiten Rupert Mayer, der Widerstand gegen die NS-Diktatur leistete.

(Foto: Robert Haas)

Hermann Sollfrank ist neuer Direktor des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising. Er war Handwerker, Sozialarbeiter, Wissenschaftler und Hochschulpräsident - und will künftig auch politisch mitreden, wenn es um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft geht

Von Sven Loerzer, München

Es ist eine ziemlich ungewöhnliche berufliche Laufbahn, von der Hermann Sollfrank erzählt. Kaum vorstellbar, dass dieser Mann, der da im dunklen Anzug mit Krawatte im Pater-Rupert-Mayer-Haus der Caritas hinter dem Münchner Hauptbahnhof sitzt, einst als Bohrwerkdreher ins Berufsleben gestartet ist. "Ich habe Lokomotiven gebaut", sagt er. Doch längst ist er selbst kein kleines Rädchen mehr im Getriebe. Zum 1. Oktober wechselt der Präsident der Katholischen Stiftungshochschule München an die Spitze des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising. Als Caritasdirektor steht er nun an der Spitze des dreiköpfigen Vorstands. Mit fast 10 000 Beschäftigten in mehr als 350 sozialen Diensten und Einrichtungen zählt der Wohlfahrtsverband zu den großen Arbeitgebern.

Die Familie des 57-Jährigen stammt aus der nördlichen Oberpfalz, Vohenstrauß, nicht weit von der tschechischen Grenze entfernt, im einstigen Zonenrandgebiet. Der Großvater hatte dort einen Handwerksbetrieb, in den sein Vater einstieg. "Durch die Schließung der Grenze geriet der Betrieb in wirtschaftliche Nöte", sagt Sollfrank. Sein Vater ging als gelernter Schreiner damals nach München, er ist "arbeitsmigriert", sagt Sollfrank. Die Familie zog nach, da war Sollfrank noch nicht im Schulalter. Den Bezug zu der früheren Heimat hat er dennoch nicht verloren. Den Oberpfälzer Dialekt versteht er noch sehr gut.

Nach seiner Ausbildung zum Bohrwerkdreher holte er das Abitur nach - als Erster in seiner Familie. Und er war auch der Erste, der studiert hat, ein "Bildungspionier", sagt er. Er war politisch interessiert, engagiert in der Katholischen Jugendbewegung "aber daraus hätte sich noch nicht unbedingt ein Engagement im sozialen Bereich ergeben müssen", sagt er. "In der Tat hatte ich nach dem Abitur vor, Maschinenbau zu studieren." Aber in den frühen Achtzigerjahren herrschte Rezession, die Branche bot wenig Perspektiven - "das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen".

Geprägt von der Jugendverbandsarbeit entschied er sich für den Zivildienst und ging zur Caritas nach Dachau, wo er in der Behindertenhilfe tätig war. Von 1987 bis 1991 studierte er soziale Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule. Zehn Jahre arbeitete er als Sozialarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe. In dieser Zeit hat er auch zusammen mit seiner Frau eine Familie gegründet und in Augsburg Pädagogik studiert. Wie das alles zusammengeht? "Dann arbeitet man halt nachmittags und nachts, frühmorgens fährt man zum Studium". Es sei eine erfüllende Zeit gewesen. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt forschte er dann zur historischen Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik und promovierte zum Thema "Katholische Jugendpflege von 1819-1926".

2002 wurde er Professor für Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungshochschule. "So konnte ich das Interesse für Sozialpolitik, für die Fürsorgebereiche, für die Jugendpädagogik verbinden mit wissenschaftlichem Tun." Seine Schwerpunkte waren die Schul- und Jugendsozialarbeit, die Medien- und Spielpädagogik, die Pädagogik des Kinder- und Jugendalters. Daneben hat er Fach- und Führungskräfte weitergebildet und soziale Organisationen beraten.

Dann folgte der "Schritt ins Management", als er 2014 zum Präsidenten der Hochschule gewählt wurde. Dazu gehöre das Agieren im politischen Raum, immer auch verbunden mit sozial- und gesundheitspolitischen Fragestellungen. Die Zukunft der Pflegeberufe, die Unterstützung junger Familien, von Alleinerziehenden - "all das sind Fragen, die gelöst werden müssen", sagt Sollfrank, und sich ihnen nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht, sondern auch aus der Perspektive eines Wohlfahrtsverbands zu nähern, lag da für ihn nahe.

Sollfrank verhehlt freilich nicht, dass seine zweite und damit letzte Amtszeit als Hochschulpräsident im nächsten Jahr abgelaufen wäre. So habe er sich entschlossen, seine Expertise mitzunehmen und bei der Caritas einzubringen. In einer Zeit, in der die klassische Grundversorgung, die Fürsorge und die Eigenleistung als die drei Säulen des Sozialstaats diskutiert werden, sei der neue Job auch eine Herausforderung. Auseinandersetzen will sich Sollfrank auch mit der "Verbreiterung von Armut, die in die Mittelschicht reindiffundiert", denn damit sieht er "völlig neue Klienten auf uns zukommen". Dies zeichne sich bereits bei der Schuldnerberatung ab, aber auch auf dem Wohnungsmarkt. Bei den Alleinerziehenden, überwiegend Frauen, zeige sich, dass selbst Frauen, die klassisch hochgebildet und hochqualifiziert sind, in prekäre Lebenssituationen kommen können.

Sollfranks Amtsvorgänger Georg Falterbaum, der nach fünf Jahren bei der Caritas im Frühjahr in den Vorstand des SOS-Kinderdorfvereins wechselte, hat die Caritas stärker als zuvor sozialpolitisch positioniert als Lobby für jene, die Hilfe brauchen. Ob es um den Wohnungsmarkt ging oder Geflüchtete, Falterbaum fand immer deutliche Worte. "Für diese Positionierung bin ich meinem Vorgänger außerordentlich dankbar, dafür muss die Caritas auch stehen", bekräftigt Sollfrank, "in diese Tradition begebe ich mich sehr, sehr gerne."

Wenn es dann nach Corona wieder daran gehen sollte, die finanziellen Löcher zu stopfen, die zur Krisenbewältigung entstanden, wird das bitter notwendig sein. Bürgerschaftliches Engagement zu unterstützen, sei notwendig, sagt Sollfrank. Doch er warnt gleichzeitig davor zu glauben, dass es Fachpersonal in der Betreuung von Kindern, alten und kranken Menschen ersetzen könne.

Und auch in der Bildungspolitik sieht er Nachholbedarf. Die Gesellschaft brauche nicht nur Ingenieure, sondern auch Pfleger und Erzieherinnen. Dieser Appell richtet sich an die Ministerien, die seit Jahren viel in die Förderung der Mint-Berufe, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, investieren, weil die Industrie Fachkräfte braucht. Aber eben nicht nur die Industrie, sagt Sollfrank, sondern auch der ganze Gesundheits- und Sozialbereich.

Deshalb bedauert Sollfrank auch, dass im Wahlkampf Sozialpolitik kaum eine Rolle gespielt hat. "Egal, welche Koalition sich in Berlin findet: Wir als größter Diözesan-Caritasverband erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie soziale Themen verstärkt in den Fokus nimmt und bei der Bewältigung der teils erheblichen Folgen der Corona-Pandemie tatkräftig hilft", sagt er. "Vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, in der Bildungspolitik, bei der Aufwertung sozialer Berufe und auch bei der Bewältigung neuer Armut gibt es viel zu tun."

Ausdauer ist also gefragt, aber damit hat Sollfrank kein Problem. Ausgleich verschafft ihm Sport, "ich fahre sehr, sehr gerne Rad, alles was daher kommt, Tourenrad, Mountainbike, Rennrad. Ich bin sehr dankbar, dass meine Frau diese Leidenschaft teilt." Als Familienmensch genieße er es sehr, junger Großvater zu sein.

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