Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Bussi, Baby?

Die Masken fallen und plötzlich sehen alle aus, als seien sie seit 2020 um zwei Jahre gealtert. Gruselig. Und keiner weiß, wie es mit den Gepflogenheiten der Münchner Gesellschaft weitergehen soll.

Glosse von Wolfgang Görl

Also neulich die Vernissage im Atelier unserer liebsten Künstlerfreundin - tja, wie soll man sagen? Die war schon ziemlich unheimlich. Klar, erst einmal gab es ein großes Hurra, geradezu exaltierte Bekundungen der Wiedersehensfreunde, denn viele der Gäste hatte man seit Beginn der Pandemie nicht mehr gesehen. Es war, als hätten diese Leute zwei Jahre lang im Gefängnis gesessen, dabei handelt es sich durchweg um honorige Kulturbürger, die weder zu einem Banküberfall noch zu christlich-sozialen Maskendeals imstande wären.

Aber wie sahen die alle aus? Bei einigen war das Grauhaar offenbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch, andere hatten eine respektable Anzahl neuer Gesichtsfalten ausgebildet und überhaupt erweckten die Besucher den Anschein, als seien sie seit Frühjahr 2020 um mindestens zwei Jahre gealtert. Das ist doch gruselig, nicht wahr? Zumal wir selbst taufrisch und jung geblieben sind.

Und da schau her: Sogar dem alten Freund Joe, einem Salonlöwen von Bogenhauser Format, sind etliche zur Bedeckung der Kopfhaut wichtige Haare abhanden gekommen und die Fältchen um Nase und Mundwinkel lassen ihn plötzlich richtig seriös ausschauen. Was war das neulich für eine Freude, ihn im Theater zu treffen, wo er in der Pause seiner Begleiterin - es ist immer eine andere, aber nie seine Frau - erklärte, dass die Inszenierung ein Fiasko und die heutigen Regisseure allesamt Stümper und Hochstapler seien. Mit dieser Expertise, die ihn zum bayerischen Kultusminister befähigen würde, imponiert er den Damen seit 50 Jahren. Seltsam, dass Joe immer wieder neue Gespielinnen findet, obwohl die Spuren der Erschlaffung überdeutlich sind. Und seine Sehkraft lässt auch nach. "Na, die Lockdown-Jahre sind auch nicht spurlos an dir vorübergegangen", hat er zu unsereins gesagt. Der spinnt doch.

Eines aber muss man zugeben. In den Zeiten der strengen Maskenpflicht sahen die Menschen jünger aus. Mit dem Gesichtslappen wirkten selbst Männer des Typs Nobelpreisträger so unwiderstehlich cool wie die tollkühnen Kampfradler vom Lieferservice Gorillas; Frauen wiederum verlieh der Mund-Nasen-Schutz die delikate Aura einer Scheherazade. Ein Hauch von Femme fatale à la Kleopatra oder Monika Hohlmeier umgab sie. Die Corona-Maske ersparte den Schönheitschirurgen, aber damit ist es jetzt ja vorbei.

Und überhaupt weiß keiner, wie es mit den zentralen Gepflogenheiten des Münchner Zusammenlebens weitergehen soll. Beispielsweise das ehedem obligatorische Begrüßungsbussi: Die einen deuten es mit zwei Metern Sicherheitsabstand nur an, andere schlecken einen ab wie ein Hund sein wochenlang vermisstes Herrchen und dann gibt es noch solche, die jeden Bussi-Versuch als Anschlag auf ihr Leben brüsk zurückweisen. Ob und wie man jetzt küsst, hätte der Lauterbach längst mal sagen sollen. Das gilt auch für die Kleiderordnung. Was trägt man in der neuen Freiheit? Zum Beispiel in der Staatsoper? Es war schon irritierend, wie kürzlich einige Opernbesucher unsere Jogginghose anstarrten, so als wären wir nackt.

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