Süddeutsche Zeitung

Münchner Bundestagskandidaten im Porträt:Jung, grün, hartnäckig

Im Münchner Süden ging das Direktmandat seit 1976 fast immer an die CSU. Jamila Schäfer will es dieses Mal für die Grünen erobern. Dafür hat sie sich bei Annalena Baerbock und Robert Habeck einiges abgeschaut.

Von Anna Hoben

Als Jamila Schäfer noch ein Kind war, schauten ihre Eltern gerne Naturdokumentationen mit ihr und nahmen sie mit ins Museum Mensch und Natur. Dort ging es etwa darum, wie Lebensmittel produziert werden. "Ich war entsetzt", erinnert sich Schäfer. Früh sei ihr klar gewesen, "dass wir unsere Lebensgrundlage zerstören". Damals habe sie sich ohnmächtig gefühlt. Ein Kind, das sich Sorgen machte - und das deshalb in der Grundschule Projekttage zu Pelztierfarmen oder Plastik vorschlug und Spenden zur Rettung der Wale sammelte. Mit einer Hartnäckigkeit, von der mancher auch genervt war, wie man aus den Erzählungen heraushört.

Diese Grundschule in Großhadern besuchte eines Tages Peter Gauweiler, damals Bundestagsabgeordneter für den Münchner Süden. Es gibt wahrscheinlich nicht viele Grundschulkinder, die sich Gedanken darüber machen, wer sie im Bundestag vertritt. Jamila Schäfer jedenfalls sagt, sie habe sich von dem "CSU-Hardliner" schon damals nicht gut vertreten gefühlt. Was sie nicht gedacht hätte: dass ungefähr 20 Jahre später sie die Person sein würde, die versucht, die Herrschaft der CSU in dem Wahlkreis zu beenden. Das ist der Anspruch der 28-Jährigen. "Ich freue mich, da ein politisches Angebot zu machen", sagt sie bei einer Apfelschorle an einem Tisch im Garten des Kiosk 1917 in Thalkirchen. Sie hat den Treffpunkt vorgeschlagen, weil sie gern hier an der Isar spazieren geht. Sie liebe den Flauchersteg und "das schöne Biotop mitten in der Stadt".

Jamila Schäfer ist noch keine 30, hat aber schon eine erstaunliche Karriere als Berufspolitikerin hingelegt. Seit 2018 ist sie stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen, ihr Schwerpunkt ist die Koordination grüner Politik im europäischen und internationalen Rahmen. Flucht, Migration, Arbeit gegen Rechtsextremismus, das sind ihre Themen. Sie hat die Programmprozesse zur Europawahl und zur Bundestagswahl mitgestaltet - "das war das Tollste". Dabei habe sie viel von Robert Habeck und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gelernt. Dass Politik keine Sache von Einzelkämpfern sein müsse etwa, sondern team- und lösungsorientiert möglich sei. Von Baerbocks Erfahrungen habe sie aber auch als junge Frau im Politbetrieb sehr profitiert. Als Frau werde einem gern die Kompetenz abgesprochen, bevor man das Gegenteil bewiesen habe. Auch aus der eigenen Partei habe sie schon Sprüche gehört wie den, ob sie nicht erst einmal heiraten und ein Baby bekommen wolle, bevor sie für den Bundestag kandidiert.

Ihre Mission ist nun, dem amtierenden Abgeordneten Michael Kuffer (CSU) das Direktmandat abzujagen. Seit 1976 ist der Münchner Süden fest in der Hand der Christsozialen, mit einer Unterbrechung 1998, als der Sozialdemokrat Christoph Moosbauer gewann. In diesem Jahr ist das Rennen völlig offen. "Die Chancen stehen so gut wie nie", sagt Schäfer, und dass sie viel Zuspruch bekomme, etwa bei ihrer wöchentlichen telefonischen Bürgersprechstunde. Doch selbst wenn es mit dem Direktmandat nicht klappt, gilt ihr Einzug in den Bundestag als sicher. Auf der bayerischen Landesliste belegt sie Platz 7.

Es war der Schulstreik gegen das achtjährige Gymnasium 2010, der Schäfer endgültig politisierte. Sie gehörte dem ersten Jahrgang an, der von der Bildungsreform betroffen war, und habe damals dafür gesorgt, dass ihre Schule sich am Streik beteiligte. Mit Engagement gemeinsam etwas bewegen zu können - das war ein Schlüsselerlebnis für sie. Das Ohnmachtsgefühl von früher war weg. Bei einer Demonstration lernte sie damals die Grüne Jugend kennen, der sie daraufhin beitrat. "Eine der besten Entscheidungen meines Lebens", wie sie resümiert.

Es sei das "Komplettpaket" gewesen, das sie überzeugt habe: Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung der Geschlechter - "und das alles in einer Organisation". Sie engagierte sich in der Ortsgruppe der Grünen Jugend in München, organisierte Seminare. Als sie für ihr Studium - Soziologie und Philosophie - nach Frankfurt am Main zog, machte sie auf Bundesebene mit der ehrenamtlichen Arbeit weiter, wurde Bundessprecherin. Im Jahr 2016 schlug ihr eine Hasswelle entgegen, nachdem ein Landesverband der Grünen Jugend sich zur Fußball-Europameisterschaft gegen Deutschlandfahnen in der Fankultur ausgesprochen und sie in Interviews die Position verteidigt hatte. Sie habe daraus gelernt, "solche Debatten besser vorzubereiten", sagt Schäfer heute. "Ich bin da leider voll reingelaufen." Was sie außerdem gelernt habe: gegen Morddrohungen rechtlich vorzugehen.

Sie kandidierte, gewann und zog nach Berlin

Dass es sie bald darauf in die Bundespolitik zog, sei nicht geplant gewesen, sondern habe sich eher ergeben. Die Kampagne der Grünen Jugend zur Bundestagswahl 2017 war parteiintern positiv aufgefallen. Trotzdem herrschte bei der Jugendorganisation ein gewisser Frust, weil keiner ihrer Kandidaten in den Bundestag eingezogen war. Es gab aber noch einen Platz im Bundesvorstand, und für Jamila Schäfer war klar: "Den müssen wir beanspruchen." Sie kandidierte, gewann und zog nach Berlin. Der schnelle Aufstieg brachte es mit sich, dass sie bis heute ihr Studium nicht beendet hat. Die Scheine hat sie, aber die Bachelorarbeit fehlt noch. Manchmal ärgere sie das, aber letztlich sei es richtig, dass sie ihre Prioritäten so gewählt habe. Sie müsste sich eben mal drei Wochen Zeit nehmen, sagt Schäfer, "aber ich schaffe es ja nicht mal, eine Woche Urlaub zu machen".

Manchmal klingt diese 28-Jährige, als wäre sie seit Jahrzehnten im Geschäft. Wenn sie davon spricht, dass man in der Politik aufpassen müsse, nicht zynisch zu werden - etwa beim Thema Migration, bei dem in den vergangenen Jahren so wenig vorangegangen sei und manches sich noch verschlimmert habe. Oder wenn sie sagt, dass sie vielleicht lernen müsse, auch mal loszulassen oder zu akzeptieren, wenn sie nicht mehr tun kann. Gerade ist sie an ihre Grenzen gestoßen, als sie einer Münchner Familie helfen wollte, die nach der Machtübernahme durch die Taliban in Kabul festsitzt. "Ich kann auch nichts anderes machen als dem Auswärtigen Amt auf die Nerven zu gehen", sagt Schäfer. Aber das tut sie, immer wieder.

Wenn es um Afghanistan geht, kann sie sich in Rage reden. Was dort gerade passiert, ist für sie ein Beispiel für Ergebnisse einer Politik, die "auf Sicht fährt" und über die sie nur "den Kopf schütteln" könne. Dass das nicht funktioniere, habe man auch bei der Flutkatastrophe und der Bekämpfung der Corona-Pandemie gesehen. Das Land habe mehr verdient als diese "Stillstandskoalition". Konkret will sie sich im Bundestag unter anderem dafür einsetzen, dass Kommunen Spielraum für einen möglichen Mietendeckel bekommen. Das ewige Münchner Dauerbrenner-Thema Wohnen, es taucht auch bei ihrer Bürgersprechstunde immer wieder auf.

Die Kandidatin im Video-Selbstporträt:

Die SZ hat die Münchner Direktkandidaten für die Bundestagswahl gebeten, sich für ein Porträt selbst zu filmen. Alle Videos und weitere Porträts der Kandidaten finden sie hier.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2021/kafe
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