Süddeutsche Zeitung

Bundestagskandidaten im Porträt:"Nichts tun ist keine Option"

Vaniessa Rashid ist eine angriffslustige Politikerin. Sie hat die erfahrene und etablierte Margarete Bause vom Thron gestürzt, als die Grünen ihre Kandidatin für den Münchner Osten wählten. Wie konnte ihr das gelingen?

Von Ekaterina Kel

Ihre Tattoos verraten schon eine ganze Menge über Vaniessa Rashid. Auf ihrem linken Oberarm zum Beispiel ist ein Kompass abgebildet. Der stehe für ein "Raus aus dem Nationaldenken", sagt Rashid. Direkt daneben: die Umrisse Kurdistans, für die Kurdin Rashid ein Sehnsuchtsort. Weg von der Nationalität oder doch zu ihr hin? Wie passt das zusammen? "Man kann patriotisch sein, ohne nationalistisch zu sein", sagt Rashid dann. Die Antwort kommt so schnell und selbstsicher daher, dass für Eventualitäten kein Raum bleibt. Das erklärt dann wohl auch den Pfeil, der sich durch beide Tattoos zieht. Der stehe dafür, dass es "straight", geradeaus, immer weiter nach vorne gehe, erklärt die 30-Jährige.

Die Grünen-Politikerin aus dem Münchner Osten wirkt angriffslustig, wie sie da auf High Heels zum Mittagessen ins Café kommt. Schnell noch einen Orga-Anruf, kurz vor der nächsten Wahlkampfveranstaltung, dann nimmt sie sich Zeit, auf alle Fragen schlagfertige Antworten zu formulieren.

Nach vorne also. "Nichts tun ist keine Option", heißt es denn auch auf ihrem rechten Handgelenk, ebenfalls als Tattoo, direkt unter der Skyline von München. Den ersten politischen Angriff hat sie schon gewonnen, auch wenn sie es selbst niemals als Angriff bezeichnen würde: Mit ihrer Kandidatur bei der Aufstellungsversammlung der Grünen in München-Ost im Frühjahr stieß sie die erfahrene Politikerin und die eigene politische Ziehmutter Margarete Bause vom Thron. Rashid nennt diesen Vorgang lieber ganz diplomatisch "Angebot". Sie habe ihren Parteifreunden eben ein besseres gemacht - und wurde mit einer Stimme mehr zur Direktkandidatin der Grünen für den Münchner Osten nominiert. Nun schmückt ihr Gesicht die Wahlplakate. Eine junge, energiegeladene Frau mit langem schwarzen Haar und breitem Lächeln ist darauf zu sehen.

Der nächste Angriff wird gerade schon sorgfältig geplant: Es geht darum, die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im Osten der Stadt davon zu überzeugen, dieses Mal ihre Erststimme bei Rashids Namen zu setzen - und nicht, wie traditionell seit 1976, beim Kandidaten der CSU. Die letzten beiden Male siegte Wolfgang Stefinger, der für die Christsozialen bereits im Bundestag sitzt. Das schreckt Vaniessa Rashid nicht ab, im Gegenteil, man hat eher das Gefühl, sie hat richtig Lust auf den Wettkampf. Sie, eine Newcomerin? Da zuckt sie nur mit den Schultern. Auf dem politischen Feld jedenfalls nicht, sie engagiere sich seit sie denken könne für Frauen- und Minderheitenrechte. Außerdem habe man jetzt, mit dem grünen Aufwind, "eine historische Chance", sagt sie.

Und: Mit ihr als Kandidatin hätten die Grünen ohnehin die besten Karten, sie könne dabei helfen, die Migranten in den Stadtteilen im Osten Münchens zu mobilisieren. Als Flüchtling und Kurdin will sie den Migrantenanteil im Bundestag heben - der sei nämlich im Vergleich zur Bevölkerung viel zu niedrig. Also heißt es von Café zum Lottoladen zum Gemüseladen zu gehen und die Wählerschaft zu animieren. "Leute, werft den Wahlbrief nicht weg, nutzt die Chance", sagt sie den Menschen.

Einer ihrer Schlüsselmomente? Sicherlich der Münchner Hauptbahnhof im September 2015. Sie hat damals völlig spontan als eine der ersten vor Ort die Hilfsstrukturen organisiert. Ein anderer war sicher die eigene Flucht: Vaniessa Rashid war drei Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester 1994 aus dem Nordirak geflohen war. Der lange Fluchtweg endete Jahre später in München. Die Mutter wurde krank, der Vater gewalttätig. Mit 13 zeigt sie ihn an, nachdem er die Tür eingetreten und die Mutter kurz nach einer OP vom Bett gezerrt hat. Es folgt ein Leben in relativer Armut, mit einer alleinerziehenden Mutter auf Hartz IV und Schlangestehen bei der Tafel. "Ich weiß, wie es ist, wenn dir das vor den Freunden peinlich ist", sagt sie. Doch die Mutter rappelt sich auf, kämpft für ihre Rechte, gründet eine kurdische Frauengruppe. Das Anpacken, das habe sie von ihrer "tollen, aktiven Mama" gelernt, sagt Rashid heute.

Deswegen will sie in Berlin auch unbedingt das Thema Kinderarmut anpacken. Und endlich die Kinderrechte im Grundgesetz verankern, sagt Rashid. Gleich danach will sie sich für "ein vernünftiges Einwanderungsgesetz" einbringen. Wenn es nach ihr geht, sollte Migration jedenfalls als Bereicherung betrachtet werden.

Rashid wohnt in Ramersdorf-Perlach. Der Bezirk hat den zweithöchsten Anteil an Münchnerinnen und Münchnern mit Migrationshintergrund. Hier engagiert sie sich auch seit Jahren im Bezirksausschuss, ist als Integrationsbeauftragte und Aktivistin für Frauenrechte gut vernetzt. Die Basis, betont sie immer wieder, die sei ihr unheimlich wichtig. Von ihr fühlt sie sich beflügelt, für sie will sie nach Berlin: "Basis ist Boss."

Eigentlich wollte sie früher auf gar keinen Fall zu einer Partei. "Als Aktivistin wollte ich die ganze Welt verändern und nicht von irgendwelchen Parteischranken ausgebremst werden", erinnert sie sich. Dann machte sie nach dem Abitur doch ein Praktikum bei den Grünen im bayerischen Landtag - im Büro von Margarete Bause. Dort habe sie gespürt: "Hier kannst du was bewegen." Sie sei begeistert gewesen von der Tatkraft der Abgeordneten, von dem Willen, für eine bessere Welt zu kämpfen. Und sie habe sich selbst als Praktikantin ernst genommen gefühlt. Deshalb sei sie bei den Grünen eingestiegen und nicht, wie ihre Mutter, bei der SPD. Obwohl auch ihr, der Tochter, Sozialpolitik wichtig sei.

Die 30-Jährige studiert Politikwissenschaft und Jura an der LMU, verdient sich mit Werkstudentenverträgen, etwa in einer Anwaltskanzlei, etwas dazu. Derzeit nimmt der Wahlkampf viel Zeit ein. Wenn man nicht Klima oder die LGBTI-Community als Themenschwerpunkte habe, sei man bei den Grünen erst einmal ein Paradiesvogel, sagt Rashid. Aber für sie seien die Migranten eben das Herzensthema - und damit will sie gewinnen.

Die Kandidatin im Video-Selbstporträt:

Die SZ hat die Münchner Direktkandidaten für die Bundestagswahl gebeten, sich für ein Porträt selbst zu filmen. Alle Videos und weitere Porträts der Kandidaten finden sie hier.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2021/wean
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