Man hat den Vorhang kaum zugezogen, schon legt die Maschine los. „Smile to vote“ ‒ bitte lächeln, um zu wählen, heißt es auf dem Bildschirm. Dann fordert der Computer auf, direkt in die Kamera zu sehen. Das eigene Gesicht erscheint, bunte Pünktchen legen sich auf Lippen, Nase und Augen. Wenige Sekunden später ist die Stimme für die Bundestagswahl registriert. „Vielen Dank“, druckt die Maschine auf einen Zettel, dazu ein Foto und den Namen der Partei, die man soeben gewählt hat. Die politische Gesinnung am Gesicht abgelesen – dank künstlicher Intelligenz (KI).
Was für viele nach Dystopie klingt, lässt sich derzeit im Deutschen Museum ausprobieren. „Eine ultra-effiziente e-Wahlkabine“, heißt es auf einem Poster. Die Kabine ist Teil des sowohl wissenschaftlichen als auch künstlerischen Projekts „Smile to Vote“. Die Installation soll bewusst verstörend wirken und zum Nachdenken über KI anregen. Nicht geplant war allerdings, zu welchen Ergebnissen die Fake-Wahlkabine gerade immer wieder kommt.

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Ein etwas größerer Mann bückt sich, um sein Gesicht in die Kamera zu halten. Wieder arbeitet die KI in Sekundenschnelle und präsentiert das Ergebnis. „Oje, ich bin ein AfD-Wähler.“ Zu diesem Zeitpunkt hat die KI bei 50 Prozent der gescannten Besucher angenommen, sie würden für die CDU stimmen (von der CSU ist in dem Programm nicht die Rede). 34 Prozent hat sie als AfD-Wähler eingeschätzt. SPD, Linke, Grüne oder BSW kommen dementsprechend selten vor. „Das find’ ich einen Krampf“, sagt der Mann, der gekrümmt die Kabine verlässt und nun wieder aufrecht stehen kann. „Das ist ja reiner Zufall. Gott sei Dank funktioniert das nicht.“
Entwickelt wurde die Installation von Alexander Peterhänsel, er ist Professor an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Amberg-Weiden und beschreibt sich selbst als Akademiker und Künstler. Die KI sei „robust“, sagt er am Telefon. Von Zufallsergebnissen könne nicht die Rede sein. Allerdings sei der Datensatz, mit dem die KI trainiert wurde, zu klein. Die Installation könne die politische Gesinnung also nicht am Gesicht ablesen. Allerdings erkennt die KI laut Peterhänsel Muster, die für Menschen nicht sichtbar seien.
Gefüttert habe der Professor und sein Team die KI mit Aufnahmen von Abgeordneten im Bundestag. Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihre eigene Partei wählen. Die Gesinnung ist bei ihnen also bekannt. Die KI habe so für jede Partei im Bundestag charakteristische Gesichtszüge gelernt.
Als Nächstes betritt Christian Mittermair die Wahlkabine im Deutschen Museum. Er zögert: „Ich bin ja Österreicher.“ Wieder gibt die KI eine hohe Wahrscheinlichkeit für die AfD an. Mittermair lässt sein Gesicht daraufhin erneut scannen, dieses Mal „mit einem stupiden Lächeln“. SPD. „Wieder falsch“, sagt der Österreicher. Beim dritten Versuch wieder AfD. „Des is so lustig“, sagt Mittermair, der für ein Öko-Unternehmen arbeitet.
Der spannende Aspekt des Projekts sei der Dialog und die Diskussion darüber, wie man mit künstlicher Intelligenz umgehen solle, sagt Alexander Peterhänsel. „So fühlt es sich an, wenn Algorithmen für mich entscheiden.“ Es gehe um den Moment, in dem die KI „übergriffig“ werde. Peterhänsel versteht sein Projekt auch als kritischen Kommentar zu Studien wie die der Stanford University aus dem Jahr 2017. Die Forscher Michal Kosinski und Yilun Wang trainierten darin eine KI, die in der Lage gewesen sein soll, die sexuelle Orientierung von Menschen anhand ihrer Gesichter zu erkennen. Der Datensatz setzte sich aus 35 000 Bildern zusammen, die Männer und Frauen unter Angabe ihrer sexuellen Präferenz auf einer Dating-Plattform veröffentlicht hatten. Peterhänsel warnt vor angeblich objektiven Algorithmen und sagt: „Wir treiben es mit diesem Projekt auf die Spitze.“ Sollte es in Zukunft eine KI geben, die tatsächlich die politische Gesinnung ablesen könnte, dann sei das zwar effizient, führe nach Ansicht von Peterhänsel aber zur Abschaffung der Demokratie.
In München begünstigen die Verhältnisse offenbar eine Entscheidung der KI für CDU oder AfD
Eine Wahlkabine ‒ ausgestattet mit KI ‒ als „bewusst gesetzte Provokation“, so soll die Installation verstanden werden. Als Blick in eine verstörende Zukunft, in der Algorithmen immer mehr Entscheidungen für Menschen treffen. Zur Installation gehört auch die echt anmutende Website smiletovote.com. Ein fiktives Start-up wirbt dort für die ‒ zum Glück ‒ bisher nicht erfundene Technologie, per Gesichtsscan seine Stimme für eine politische Wahl abzugeben. Ein Lächeln genüge, um den Verfahren zuzustimmen.
„So etwas kann ganz schön schiefgehen“, findet eine Besucherin des Deutschen Museums, der die KI gerade die CDU aus dem Gesicht gelesen hat. „Dass sich die KI da mal nicht irrt. Die wahre politische Haltung einer Person erfahre ich doch erst im Gespräch.“ Was man der KI-Kabine jedoch lassen muss: Sie bleibt oft bei ihrem Ergebnis. Interessierte versuchen es mal mit oder ohne Pulli, mal mit Kapuze ‒ ohne Erfolg. Die Partei bleibt oft die gleiche, und für viele lautet das Ergebnis entweder CDU oder AfD. „Gesichtszüge sind wie ein Fingerabdruck“, sagt Peterhänsel. „Da geht es um Geometrie.“ Für welche Partei sich die KI letztlich entscheidet, sei jedoch noch von einem anderen Faktor abhängig. Das Projekt sei seit 2018 auf Tour, und je nach Ort kam die Kabine laut Peterhänsel zu unterschiedlichen Ergebnissen, selbst bei seinem Gesicht. „Es hängt auch von den Lichtverhältnissen des jeweiligen Aufstellungsortes ab.“ In München begünstigen sie offenbar eine Entscheidung der KI für CDU oder AfD.
Eine Anpassung hat Alexander Peterhänsel an der Installation, die nüchtern „Wahlkabine 2“ heißt und in der Eingangshalle des Deutschen Museums steht, noch vorgenommen. Der Zettel, den die Maschine nach dem Scan ausdruckt, enthält auf der Rückseite nun Erläuterungen zum Forschungsprojekt. Von einer Wahlempfehlung für die Bundestagswahl am 23. Februar ist ausdrücklich nicht die Rede.