Als Mohcine Ramdan, der mit prächtig besticktem Kaftan-Hemd unterm Trachtenjanker mitten im aufgekratzten Pulk vor der Bühne steht, von der Presse gebeten wird, seinen Namen auf einen Block zu notieren, reicht er den Stift nach drei Buchstaben wieder zurück: "Ich zittere so. Können Sie selber schreiben?" Auch für den aus Marokko stammenden Münchner Musiker geht gerade ein bewegter und bewegender Abend zu Ende.
Nach eineinhalb Jahren ist der Saal des NS-Dokumentationszentrums erstmals wieder rappelvoll. Um Menschen zu ehren, die sich beispielhaft für das gesellschaftliche Miteinander einsetzen, gegen rechtsextremistische Tendenzen und Ausgrenzung. Beste Münchner Gesellschaft also. Aus den Händen von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) erhält das Festival "Ausarten - Perspektivwechsel durch Kunst: Jüdisch-Muslimischer Dialog" den "Münchner Bürgerpreis für Demokratie - gegen Vergessen". Der Ehrenpreis geht an den Shoah-Überlebenden Ernst Grube.
Ein zeitgemäßeres Zeichen, als diese beiden Akteure gleichzeitig zu ehren, hätten die Verantwortlichen des NS-Dokumentationszentrums um Mirjam Zadoff und Thomas Rink nicht setzen können: Grube als nicht müde werdender Mahner dessen, was nie wieder möglich sein darf, und die junge Festival-Familie, die zeigt, was in der postmigrantischen deutschen Gesellschaft möglich ist. Jedes Jahr zeigt das jüdisch-muslimische Team bei "Ausarten" in den Räumen des Münchner Forums für Islam (MFI) junge Kunst, es gibt Workshops zu Theater, Musik, kreativem Schreiben mit dem Ziel, Kultur niederschwellig für diverses Publikum zugänglich zu machen.
Das Gefühl, gesehen zu werden
Laudator Björn Bicker von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Coburg preist in seiner Laudatio diese "horizonterweiternde, Begegnung stiftende, den Menschen befreiende Kraft der Kunst". In ganz München gebe es keinen Ort, der so "vielfältig, intersektional, so hip, so urban und gleichzeitig so offen" sei wie das MFI während des Ausarten-Festivals. "Hier sind wir mit unseren hybriden Identitäten mal nicht Gäste, sondern Gastgeberinnen", stellt als eine der hoch Gelobten Nabila Abdel Aziz fest. Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung gebe der Gruppe "das Gefühl, gesehen zu werden". Gesehen werde auch, lehnt sich der Oberbürgermeister bei der Gelegenheit aus dem Fenster, dass der Mietvertrag des MFI 2022 ausläuft und ein neuer Raum nicht in Sicht ist: "Wir werden das Problem lösen."
Als "Grande Dame der Demokratie" hat Reiter eingangs Hildegard Hamm-Brücher bezeichnet, Stifterin des Preises - "gegen Vergessen", das also, was auch Ernst Grube seit Jahrzehnten als Auftrag begreift. Er ist einer der wenigen noch lebenden Münchner, der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlebt hat. Ungeachtet eigener Traumata hat der 88-Jährige nach 1945 seine Lebensgeschichte erzählt, "widerständig, da keiner zuhörte", so Zadoff. Anders als zahlreiche Jugendliche, die der Zeitzeuge noch immer in seinen Bann zieht. Mohcine Ramdan lauscht ihm an diesem Abend auf der Bühne, umringt von seiner Band mit dem Namen Jisr, dem arabischen Wort für Brücke.