Süddeutsche Zeitung

Buch-Projekt:"Ich bin behindert, aber ich bin nicht krank"

Amili Targownik kam mit Zerebralparese auf die Welt. Als Kind glaubte sie, dass sie als Erwachsene werde gehen können. Nun hat sie eine Autobiografie geschrieben.

Von Max Fluder

Sie waren gewarnt. Ihre Mutter wusste, dass Amili Targownik irgendwann wütend auf sie werden würde, dass Amili sie konfrontieren und diese Fragen stellen würde: "Wieso hast du nichts gemacht? Du merkst, dass dein Baby in deinem Bauch sich nicht mehr bewegt, und wartest zu Hause ab. Wieso bist du nicht zum Arzt gegangen? Wolltet ihr denn ein behindertes Kind?". Amili schrie und weinte, ihr Vater kam hinzu. Trotzdem machte sie weiter. Das Kind, das Baby, von dem Amili gesprochen hat, ist sie selbst.

Immer wieder, sagt Amili heute, also viele Jahre nach diesem Streit, habe sie ihre Eltern gefragt: "Wieso bin ich so, wie ich bin?" Aber sie kann sich nur an dieses eine Mal erinnern, an dem sie so unglaublich sauer geworden ist. Nachdem sie sich beruhigt hatte, nachdem sich ihre Eltern ihr erklärt hatten, entschuldigte sie sich.

Amili Targownik, 1995 in Israel geboren, ist in München großgeworden. Sie kam mit Zerebralparese, kurz auch CP, auf die Welt. Mit diesem Begriff werden Bewegungsstörungen bezeichnet, deren Ursache in einer frühkindlichen, oft auch pränatalen Hirnschädigung liegt. Amili kann ihre rechte Hand nicht benutzen, sie sitzt im Rollstuhl, den sie "Rolli" nennt. Die 24-Jährige hat ein autobiografisches Buch über das Aufwachsen mit CP geschrieben. Über die ersten Tage ihres Lebens in Israel, ihre teilweise schmerzhaften Erfahrungen mit dem bayerischen Schulsystem und ihren Weg, sich in der Welt zurechtzufinden. Der Titel des Buches: "Hat keine Flügel, kann aber fliegen".

Das Buch setzt an einem Zeitpunkt ein, an dem Amili noch nicht geboren war. Es ist der Moment, in dem Amilis Mutter merkt, dass ihre Schwangerschaft seltsam verläuft, der Moment also, an dem wahrscheinlich die Ursache für Amilis Behinderung liegt. Von da an geht die Erzählung chronologisch weiter. Natürlich kann sie sich nicht daran erinnern, was vor ihrer Geburt passierte, wie sie sich als Baby fühlte oder was alles um sie herum passierte. Sie hat die ersten Kapitel des Buches mithilfe ihrer Eltern rekonstruiert. Es war ihr wichtig, ihr Buch aus der Perspektive des Kindes im Mutterleib anfangen zu lassen, sie sagt: "Wenn ich schon über mein Leben mit Behinderung schreibe, dann muss ich auch erklären, wie ich behindert geworden bin."

Dass Amili interessiert daran war, so neugierig, das betonen auch ihre Eltern: Mitte Mai sitzen sie auf einer Bühne der Israelitischen Kultusgemeinde München und sprechen über ihre Tochter und deren Buch. Eigentlich wäre Amili auch vor Ort, konnte aber wegen der Corona-Pandemie nicht aus Israel ausreisen, wo sie an der Bar-Ilan-Universität in Tel-Aviv Sozialwissenschaften studiert. Mit dabei ist sie trotzdem - in Form kurzer Videoausschnitte, in denen sie auf Fragen zum Buch eingeht. Während man ihr zuhört, blickt man in ein Gesicht mit wachen, dunklen Augen und leicht hervorstehenden Wangenknochen. Die braunblonden Haare reichen ihr bis zur Hüfte.

Treffen kann man Amili gerade natürlich nicht, man erreicht sie in ihrer Wohnung in Tel-Aviv am besten über Video-Chat. Sie sitzt in einem hell eingerichteten Zimmer, ab und an hört man, wie draußen Autos die Straße entlang rasen. Spricht man länger mit ihr, fällt auf, wie oft Amili lacht. Sie redet viel und sie redet schnell. Sie weiß das, denn sie warnt einen sogar davor. Das war nicht immer so, im Gegenteil: Anderthalb Jahre ihrer Kindheit schwieg sie. Amili konnte zwar reden, ihre Gesichtsmuskeln, die Zunge und die Stimmbänder - sie alle funktionierten, also rein physisch. Sie wollte nur nicht. Aus Wut. Aber wohl auch aus Trauer.

Nachdem ihre Schwester geboren war, sah Amili ihr zu, wie sie lernte zu gehen. Zu rennen. Ballett zu tanzen. Natürlich, sagt Amili heute, war sie neidisch, als sie ihre Schwester beobachtete. "Aber es war mehr als nur Neid", sagt sie, "ich war wütend auf sie. Es war Neid - und es war Schock." Für Amili, so erzählt sie es, brach damit ein Weltbild zusammen: Sie ging zuvor davon aus, dass alle Menschen behindert geboren und mit ihrem 18. Geburtstag die Fähigkeit erlangen würden, zu gehen. Dies war der Moment, in dem ihr zum ersten Mal klar wurde, dass dem nicht so war, dass sie bestimmte Dinge nicht konnte. "Laufen und Tanzen, das sieht so einfach aus. Als Kind habe ich immer auf die anderen geschaut. Ich war einfach traurig, ich wurde depressiv", sagt sie, ihre Stimme bebt leicht. Während der Lesung sagt ihr Vater: "Ich glaube, es gibt keine reine physische Behinderung. Das beeinflusst einen immer auch im Geist."

Die Entstehungsgeschichte ihres Buchs "Hat keine Flügel, kann aber fliegen" ist ein wenig verschlungen: "Ich habe schon immer gerne erzählt", sagt Amili. Früher habe sie noch ihren Gedanken freien Lauf gelassen und mit bekannten fiktiven Filmfiguren Dialoge geführt. Diese Fantasien finden sich im Buch wieder. Heute sagt sie darüber, sie wollte schon damals jemandem von sich erzählen, hatte aber nur bei Winnie Puuh und Co. das Gefühl, wirklich verstanden zu werden. Aus dem Erzählen wurde das Schreiben, wirklich konkret wurde die Idee aber erst, als Amili in die USA zog, um dort ihren Schulabschluss zu machen. Das Buch, genauer: die ersten Auszüge und Texte, waren ihr Abschlussprojekt. In Israel vollendete sie es dann. Dafür zog sie sich mit ihrer Mutter nach Netanja, eine Stadt am Meer, nördlich von Tel Aviv, zurück, wo sie wochenlang nur an dem Buch arbeitete. "Manchmal", sagt Amili, "war ich kurz vor dem Aufgeben, habe gerufen: 'Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr'."

Das Buch erscheint auf Deutsch, verfasst hat sie es aber auf Englisch. Sie träumt auch manchmal noch in der Sprache, den USA fühlt sie sich verbunden. Genauso wie Israel bezeichnet Amili das Land als ihr "Zuhause". Das hängt damit zusammen, dass sie sich dort an der High School so wohlfühlte, immer noch Kontakt dorthin hat. Aber es liegt auch daran, dass sie sich in Deutschland nicht verstanden fühlte: "Entweder war ich die Behinderte oder ich war die Jüdin. Ich habe nie meinen Platz gehabt", sagt sie. Darüber zu reden, fällt ihr noch heute schwer. Sie überlegt lange, was genau sie sagen möchte, stoppt oft.

Amili lebt gerne in Israel, sie sagt: "Ich liebe die Offenheit, die Wärme der Leute. Hier gibt es dieses Denken in Dogmen nicht so sehr." Eines stört sie allerdings: Im Vergleich zu anderen Ländern ist ein Leben mit CP nicht so einfach. Einmal, so erzählt sie, wurde sie bei einem Restaurantbesuch zu der behindertengerechten Toilette geführt, öffnete die Tür und ihr kamen Besenstiele entgegen. Die Kabine wurde als Abstellraum benutzt. "In Israel sind sehr wenige Menschen mit Behinderung sichtbar", sagt sie, "deswegen werden sie oft nicht mitbedacht." Das würden die Leute in Israel durch ihren persönlichen Einsatz aber wieder wettmachen, sagt sie.

Israel war eines der ersten Länder, das wegen der Corona-Pandemie die Einreise aus Deutschland verbot. Eigentlich wollte Amili gemeinsam mit ihrer Familie im April das Pessach-Fest feiern. Sie mussten auf Zoom ausweichen. Auch die Kurse an ihrer Uni finden - so wie in Deutschland - virtuell statt. Bisher ist Israel vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen, im Juni sollen schon die Versammlungsbeschränkungen gelockert werden. Trotzdem hat Corona seine Spuren hinterlassen: Amili merkt, wie Leute von ihr weichen, weil diese, so glaubt sie, den Trugschluss ziehen, dass Amili ja irgendwie krank sein müsste. Auch als sie ihre Reise nach Deutschland geplant hatte, um hier ihr Buch vorzustellen, wurde sie behandelt, als hätte sie Vorerkrankungen, als müsste man sie besonders schützen. Nötig war das nicht, Amili ist gesund. Sie sagt: "Ich bin behindert, aber ich bin nicht krank."

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Quelle:
SZ vom 25.05.2020
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