Während des Lockdowns war die Bahnhofsmission München eine der wichtigsten Anlaufstellen für Menschen in Notlagen, aber auch für Menschen, die nach ihrer Flucht am Hauptbahnhof ankommen, gibt es dort erste Orientierung. In der vor 125 Jahren gegründeten, kirchlich getragenen Bahnhofsmission zeigt sich schnell, wenn neue Notlagen entstehen. Bettina Spahn, 57, Leiterin der Katholischen Bahnhofsmission, und Barbara Thoma, 55, Leiterin der Evangelischen Bahnhofsmission, warnen vor der steigenden Armut, die sich bereits jetzt abzeichnet.
SZ: Als die Bahnhofsmission München vor 125 Jahren gegründet wurde, ging es vor allem um den Schutz junger Frauen, die auf der Suche nach Arbeit in die Großstadt kamen. Auch jetzt erscheint das Thema besonders aktuell.
Bettina Spahn: Durch den Ukraine-Krieg ist es wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gekommen, weil sehr viele Frauen mit Kindern auf der Flucht waren. Das Thema war nie weg, es ist in der Zwischenzeit auch viel passiert. Es wurde aber bei den geflüchteten Frauen kein Massenphänomen, da es viele Hilfestrukturen gibt, die dem entgegenwirken. Wie etwa die 24-Stunden-Präsenz des Info-Points und von uns, aber auch die Polizei ist sehr gut sensibilisiert. Und es gibt Beratungsstellen, wie etwa Jadwiga, die sich um die Frauen kümmern. Das alles hat gut gegriffen.
Der Übernachtungsschutz für Frauen war der Bahnhofsmission bereits zuvor ein wichtiges Anliegen.
Spahn: Diesen Schutz zu bieten, mit ein Gründungsanliegen für die Bahnhofsmission, war schon immer ein Thema für den katholischen Träger mit der Frauen- und Mädchenarbeit. Es ist ein niederschwelliger Schutz mit der Isomatte auf dem Boden zum kurzfristigen, sicheren Übernachten in unseren Räumen. Inzwischen ist als Übergang in das Hilfesystem für Frauen unser Angebot Lavendel dazugekommen. Es ermöglicht Übernachtung im Vier-Bett-Zimmer, aber dazu auch intensivere Beratung, um die Frauen wieder auf einen guten Weg zu bringen.
Warum wird ausgerechnet der Bahnhof zum Kristallisationspunkt für Probleme von Menschen?
Barbara Thoma: Das ist ein Raum, wo sich Menschen aufhalten können, aber selber weniger auffallen. Das Kommen und Gehen ist sehr unverbindlich, es gewährt Anonymität. Viele Leute kommen auch an und wissen zunächst nicht, wo sie hin sollen. Dann kommen sie zur Bahnhofsmission.
Spahn: Es ist ein öffentlicher Raum und für viele Menschen auch ein Sozialraum. Und ein Ort, an dem ich selber entscheiden kann, wohin es geht, auf welchen Zug ich aufspringe, auf welche Weichenstellung ich mich einlasse.
Die Bahnhofsmission erfährt dadurch sehr schnell, welche gesellschaftlichen Probleme sich abzeichnen. Wohin geht die Entwicklung?
Spahn: Die Inflation schlägt zu. Die Armut wird deutlich zunehmen. Wir merken jetzt schon, dass Mitte des Monats viele zu uns kommen, die kein Geld mehr haben.
Wie können Sie helfen?
Thoma: Wir schauen uns jeden Einzelfall in der Beratung an und unterstützen dann mit Lebensmittelpaketen, Einkaufsgutscheinen oder der Weitervermittlung an geeignete Beratungsstellen für eine längerfristige Lösung. Manchmal geht es auch um Medikamentenzuzahlungen, die wir dann aus Spendenmitteln übernehmen können.
Spahn: Wir versuchen natürlich auch, die Menschen aus dieser Situation, um Geld und Spenden bitten zu müssen, herauszubringen. Deshalb sprechen wir das Problem deutlich an: Wenn Lebensmittelpreise um 30 Prozent steigen, dann ist klar, dass das Arbeitslosengeld II nicht mehr reicht. Aber wir merken, dass das derzeit kaum ein Thema in der Öffentlichkeit ist. Dabei müsste da dringend etwas passieren.
Dafür senken wir die Benzinpreise...
Spahn: ...oder diskutieren über die Pendlerpauschale.
Bis zur Einführung des neuen Bürgergelds, das nächstes Jahr kommen soll, wird sich wohl nicht mehr viel tun. Reicht bis dahin die angekündigte Einmalzahlung von 200 Euro?
Thoma: Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Es reicht einfach nicht. Wir können in der Bahnhofsmission Menschen in Notlagen zwar im Vorgriff auf das Arbeitslosengeld II Geld auszahlen, aber das fehlt den Menschen dann im übernächsten Monat. So kommen sie nicht aus der Situation heraus.
Spahn: Wir müssen immer mehr mit Spendenmitteln helfen, weil die staatlichen Leistungen zu gering sind. Das kann doch keine Dauerlösung sein. Es ist einfach eine deutliche Erhöhung der Regelsätze überfällig, damit die Leute nicht auf Spenden angewiesen bleiben.
Welche Folgen sehen Sie, wenn Menschen lange Jahre mit den knapp bemessenen Sätzen auskommen müssen?
Spahn: Dann bricht das soziale Gefüge auseinander. Es sind dramatische Biographien, es kann dann schnell ganz nach unten gehen. Wenn die Leute schon angeschlagen sind, kann das dazu führen, dass eine psychische Erkrankung ausbricht. Dann wird es ganz schwierig.
Steigende Strom- und Heizkosten werden noch mehr Menschen in Schwierigkeiten bringen.
Spahn: Da wird bei vielen der Verdienst nicht mehr reichen. Während der Pandemie waren schon viele wegen Kurzarbeit ergänzend auf Arbeitslosengeld II angewiesen.
Trotz des breitgefächerten sozialen Beratungsangebots in München hat die Zahl der Hilfesuchenden bei der Bahnhofsmission nicht abgenommen. Worauf führen Sie das zurück?
Spahn: Wir sind die zentrale Anlaufstelle außerhalb der üblichen Bürozeiten, also nachts, am Wochenende oder während Urlaubszeiten. Oder während des Lockdowns in der Pandemie-Zeit.
Thoma: Die Menschen kommen in einer Krisensituation auch manchmal nachts, weil sie gleich mit jemandem sprechen wollen.
Spahn: Bei uns wissen sie, dass immer jemand da und ansprechbar ist.
Was müsste politisch passieren, um Notlagen nicht entstehen zu lassen?
Thoma: Das Existenzminimum müsste angehoben werden, damit die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben.
Spahn: Wir dürfen die Schere nicht noch weiter auseinander gehen lassen. Unterschiede wird es immer geben, aber sie dürfen nicht zu groß werden. Und ich würde mir wünschen, dass die Notlagen nicht für Parteipolitik ausgenutzt werden.
Wie sieht die Zukunft für die Bahnhofsmission beim Umbau des Hauptbahnhofs aus?
Spahn: Die Bahn hat uns absolut auf dem Schirm. Das Gebäude, in dem wir sind, wird abgerissen. Im Neubau sind wir vor Ort mit deutlich mehr Platz. Wir bleiben sichtbar, die Bahn will uns gut versorgen. Bis das neue Gebäude steht, wird es eine Interimslösung geben.
Was wäre Ihr Wunsch zum Jubiläum?
Spahn: Dass die Gründungsidee der Bahnhofsmission weiterlebt. Sie gehört zum Bahnhof, zu München.
Thoma: Es ist gelebte Kirche vor Ort, keine Worthülse. Hier kann man Menschen unterstützen, aber auch Menschen begegnen.
Spahn: Kardinal Reinhard Marx hat gesagt: "Wie die Bahnhofsmission ist, so kann Kirche sein, so soll Kirche sein."
Bei der Bahnhofsmission wird man also nicht hören, wir sind nicht zuständig...
Spahn: Das ist der schlimmste Satz überhaupt: sich zu überlegen, welches Argument gibt es dafür, dass ich nichts tun muss.
Thoma: Wenn ich in der konkreten Situation nicht unterstützen kann, muss ich mir überlegen, wer kann dann helfen. Wenn ich mich nicht mehr berühren lasse, von dem, was die Menschen bewegt, kann ich sie auch nicht unterstützen, dann spule ich irgendein Programm ab.