Süddeutsche Zeitung

Inklusion:Wo die Schwäche zur Stärke wird

Bei der Firma Auticon ist die Diagnose Autismus Einstellungskriterium für IT-Spezialisten - denn sie arbeiten besonders konzentriert und qualitätsbewusst.

Von Kathrin Aldenhoff

Jürgen Schuch hat gelernt, sich so zu verhalten wie die meisten anderen Menschen. Er weiß, dass die es gut finden, wenn man sich zur Begrüßung die Hand gibt. Wenn man sich bei einem Gespräch in die Augen schaut. Und wenn man nicht zu ehrlich ist. Er hatte mal Ärger, weil er seinem damaligen Chef gesagt hat, dass er nicht gerne in dessen Büro geht, weil es dort stinkt. Die neurotypischen Menschen, wie er sie nennt, hören so etwas nicht gerne. Jürgen Schuch ist nicht neurotypisch, der 44-Jährige hat eine Autismus-Spektrums-Störung. "Ich spiele 24 Stunden am Tag eine Rolle und das ist verdammt anstrengend. Es ist abhängig von meiner Tagesform, wie gut ich es durchhalte." Die Diagnose Autismus bekam er vor drei Jahren. Seitdem ist sein Leben leichter geworden.

Ein Prozent der Bevölkerung haben eine Autismus-Spektrums-Störung. Das sind in Deutschland 800 000 Menschen. Nicht immer wird die Entwicklungsstörung in der Kindheit oder der Jugend diagnostiziert. Jürgen Schuch zum Beispiel war 41 Jahre alt, als er erfuhr, warum er Probleme hat, den Gesichtsausdruck und die Gesten seiner Gegenüber zu verstehen. Warum er keine großen Menschenmengen mag. Warum er ständig aneckt. "Für mich war es eine Erleichterung zu wissen, warum ich mich so anders fühle", sagt Jürgen Schuch.

Und warum es im Job so oft Missverständnisse gab, er so oft den Arbeitgeber wechseln musste. Er programmiere erst im Kopf, sagt Jürgen Schuch. Erst wenn er alles fertig gedacht habe, setze er sich an den Computer. "Es ist für neurotypische Kollegen schwer zu begreifen, dass einer, der nur spazieren geht, mehr schafft als sie." Mal wurde er gekündigt, mal ging er selbst. Seit zwei Jahren ist er bei einem Unternehmen angestellt, wo man ihn versteht. Auticon heißt sein Arbeitgeber, die Firma beschäftigt IT-Spezialisten mit Autismus, und zwar ausschließlich.

Auticon wurde 2011 in Berlin gegründet, von einem Vater, dessen Sohn Autist ist. Die Firma hat inzwischen 290 Mitarbeiter weltweit, 210 von ihnen sind Autisten. Sechs Niederlassungen gibt es in Deutschland, in München arbeiten 18 IT-Spezialisten, außerdem Mitarbeiter für Personal, Marketing und Finanzen.

Auch Michael Opitz arbeitet bei Auticon, seit fast einem Jahr. Der 29-Jährige bekam vor vier Jahren die Diagnose Autismus. "Es hat mich fast erleichtert, zu wissen, dass ich die Probleme in meinem Leben nicht habe, weil ich versage, sondern wegen einer angeborenen Entwicklungsstörung. Das hat mein Selbstvertrauen gestärkt." Was ihm schwer fällt: sich auf neue Situationen einzulassen. Mit Unbekannten über Belanglosigkeiten zu reden, Freundschaften zu schließen. Er mag keine Menschenmengen, keine laute Musik.

Eine Besonderheit von Auticon: Bevor die IT-Spezialisten Kundenprojekte bearbeiten, spricht ein sogenannter Jobcoach mit dem Kunden. Er stellt den Mitarbeiter vor, erklärt zum Beispiel, dass er Blickkontakt nicht aus Unhöflichkeit vermeidet, sondern dass es ihm leichter fällt, zuzuhören, wenn er nicht auch noch auf die Mimik achten muss. "Mit dem Jobcoach lassen sich die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass wir optimal funktionieren", sagt Jürgen Schuch. Wenn es Probleme beim Kunden vor Ort gibt, kann er den Jobcoach einschalten, der vermittelt dann.

Bei Menschen mit Autismus funktioniere die Informationsverarbeitung im Gehirn anders, sagt der Psychiater Leonhard Schilbach. "Sie sehen die Welt ein Stück weit anders. Das haben sich die Betroffenen nicht ausgesucht, sie kamen so auf die Welt." Schilbach hat bis Ende Juni die Ambulanz für Störungen der Sozialen Interaktion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München geleitet.

Jürgen Schuch sagt gerne zwei Sätze über Menschen mit Autismus. "Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus, wir sind vom Titan", ist so einer. "Kennst du einen Autisten, kennst du genau einen Autisten", ein anderer. Die Menschen sind verschieden, auch die mit einer Autismus-Diagnose. Jürgen Schuch ist einer, der mit vier Jahren sein erstes Computerprogramm geschrieben hat. Ein Tagebuchprogramm. Denn schreiben konnte er schon. Die Idee hatte er aus einer Fernsehserie, das Programmieren brachte er sich selbst bei, mithilfe von Fachliteratur. Denn lesen konnte er auch schon. Aber sein Informatikstudium hat er nicht abgeschlossen.

"Das ist typisch für Menschen mit Autismus", sagt Ramona Öller. Die 30-Jährige Neurowissenschaftlerin hat als Jobcoach bei Auticon gearbeitet, inzwischen ist sie dafür zuständig, neue Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen. Ein Studienabschluss ist keine Voraussetzung dafür. Sie wissen hier, dass das für Autisten oft schwierig ist: Gruppenarbeiten, Präsentationen vor dem ganzen Seminar, Vorlesungen mit 300 Leuten in einem Hörsaal. "Uns geht es darum, was der Bewerber im IT-Bereich kann", sagt Ramona Öller.

An der Hochschule München arbeiten Wissenschaftler, Betroffene und Mitarbeiter von Beratungsstellen seit eineinhalb Jahren im Auftrag der bayerischen Sozialministerin an einer Autismus-Strategie für Bayern. Menschen mit Autismus sollen besser integriert werden. Da sei noch viel zu tun, sagt der Psychiater Leonhard Schilbach. "Menschen mit Autismus sind stark von Arbeitslosigkeit betroffen." Vor ein paar Jahren untersuchte er, wie viele der Menschen, bei denen Autismus diagnostiziert wurde, arbeitslos sind. Das Ergebnis: von 200 Betroffenen waren 40 Prozent arbeitslos. Zum Vergleich: Im November diesen Jahres hatte München eine Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent. Gerade deswegen sei eine Firma wie Auticon so wichtig, sagt Schilbach. Menschen mit Autismus seien sehr durchsetzungsstark und qualitätsbewusst und in der Lage, sehr konzentriert an einem Thema zu arbeiten. "Wir brauchen diese Menschen und ihren unverstellten Blick auf die Welt." Darüber sollten auch andere Firmen nachdenken.

Seit er weiß, dass er das Asperger-Syndrom hat, leidet Jürgen Schuch nicht mehr unter Depressionen. Und Michael Opitz sagt, die Diagnose habe ihm gezeigt, woran er arbeiten müsse. Er hat sich große Mühe gegeben, neue Freundschaften zu schließen. Und freut sich schon jetzt auf das nächste Kundenprojekt.

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SZ vom 27.12.2019/vewo
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