Es heißt, durch die Fotografie, die technische Reproduzierbarkeit hätten die Dinge ihre Aura verloren. Zumindest hat das Walter Benjamin in seinem berühmten "Kunstwerk"-Aufsatz von 1935 so analysiert. Dabei ist es so, dass auch ein als Massenware gefertigtes Bildchen in einer Schokoladenpackung eine authentische, einzigartige Aura ausstrahlen kann. Und zwar dann, wenn jemand damit eine sehr persönliche, emotionsreiche Erinnerung verbindet. So sieht es jedenfalls der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Und als eindrücklichen Beleg dafür könnte man Pamuks 2008 erschienenen Roman "Das Museum der Unschuld", das gleichnamige, von ihm 2012 eröffnete Museum und nun auch die Ausstellung "Der Trost der Dinge" im Münchner Lenbachhaus ansehen.
Die aus Dresden kommende und anschließend nach Prag wandernde Schau ist eng mit dem Museum der Unschuld in Istanbul verbunden. Dort gibt es 83 Vitrinen, die sich auf 83 Kapitel im Roman beziehen. Aber nicht so, dass die Dinge das Buch nachträglich illustrieren. Im Gegenteil. Pamuk, der zur Eröffnung in München war, hatte den Gedanken an ein Museum bereits beim Schreiben im Kopf. Er sammelte unter anderem auf Flohmärkten dafür Gegenstände, die alle auch in den Romankapiteln eine Rolle spielen. Wobei diese nicht als Sammelsurium in den Vitrinen liegen. Stattdessen hat Pamuk zusammen mit Künstlern von Dadaismus und Surrealismus beeinflusste Dioramen kreiert. Marcel Duchamps Ready-mades und Joseph Cornells magische "Boxes" nennt Pamuk ebenfalls als Vorbilder.
Insgesamt 40 Dioramen wurden für die Ausstellung nun nachgebildet. Hinzukommen ein paar weitere, mit denen Pamuk auf Werke in den Dresdner Kunstsammlungen und im Lenbachhaus reagiert. Und dann sind da noch Zeichnungen, Tagebücher und Fotografien sowie eine Videoarbeit des türkischen Künstlers Ali Kazma, der den Arbeitsalltag des Schriftstellers in dessen Haus im Instabul dokumentiert hat. Mit dem literarischen Kosmos des Nobelpreisträgers sind alle Objekte eng verwoben. Sie zeigen aber zugleich auch die vielen Talente des 72-Jährigen, der, bis er 22 war, eigentlich Maler werden wollte. Und der nun seit 50 Jahren Romane schreibt.
Aber auch wenn er, wie er sagt, den Maler in sich damals "getötet" hat: Losgelassen hat Pamuk die Bildende Kunst nie. Stattdessen zeigen etwa seine farbkräftigen Tagebücher, wie eng bei ihm das Schreiben mit dem Malen einhergeht. Im von Pamuk verfassten Katalog zur Ausstellung (der Autor hat auch den Audioguide eingesprochen) heißt es: "Meiner Ansicht nach schreibt es sich als Romanautor über Dinge, Personen oder Landschaften leichter, wenn man sie vorab fotografiert oder gemalt hat." Und: "Das Schreiben wie das Malen ist schließlich die Kunst, sich mit dem, was man darstellt, zu identifizieren." Das kann eine Möwe sein, von denen mehrere an der Wand hängen. Aber auch Füsun malt in "Das Museum der Unschuld" Möwen. Wodurch sich die Ebenen abermals vermischen.

Füsun ist die Frau, wegen der Kemal im Buch sein Museum errichtet, nachdem er sie, seine große Liebe, verloren hat. Ein gebrochenes Herz ist also der Motor. Und die Dinge zu berühren, die mit Füsuns Leben zu tun hatten, das ist es, was Kemal Trost spendet. Ein gebrochenes Herz aus Porzellan ist in einer der Vitrinen zu sehen, dahinter eine aus Fotos herausgeschnittene Zuschauermenge. Und tatsächlich ist es ja auch Kemals Kummer, den er öffentlich ausstellt. In einer weiteren Vitrine hängen ein Puppenarm und ein Stück Tapete, die aus dem leeren Haus von Füsuns Familie stammen. Eine weitere heißt "Der Tod meines Vaters". In ihr sind etwa eine Pillendose, ein Foto mit picknickenden Soldaten und ein illuminiertes Glas, das von Hitchcock inspiriert ist.

Zu den auf das Lenbachhaus reagierenden Dioramen gehören zwei faszinierende Auseinandersetzungen mit Alfred Kubin. Eine bezieht sich auf Kubins Bild "Epidemie", das eine riesige, skelettartige Kreatur zeigt. Für das Diorama hat die Künstlerin Kiymet Dastan diese in eine Bronzefigur verwandelt, die nun durch einen Holzrahmen lugt. Auf Kubins Zeichnung "Das große Maul" taumeln kriegsbegeisterte Menschen in einen Schlund. In seiner optimistischen 3-D-Variante dagegen lässt Pamuk Menschen, die ihn geprägt haben, aus dem Maul herausspazieren.
Zwei weitere Dioramen reagieren auf Bilder von Paul Klee. Dazu gehört das Gemälde "Erzengel" von 1938. In einem der Dresden-Dioramen geht es ebenfalls um Engel. Pamuk bringt hier ein Zitat aus Rilkes "Duineser Elegien", einen Engel aus einem Gemälde von Francisco de Zubarán und weitere Engel aus islamischen Manuskripten zusammen. Seine Erkenntnis: "Die christlichen Engel sind größer. Sie wirken mehr wie richtige Individuen. Und führen ein dramatischeres Leben." Die Engel im Islam sind weniger individuell, ähneln sich mehr und treten meist als Diener auf. Die Vermischung von Welten, von Gefundenem und Erfundenem, Orient und Okzident, Kunst und Alltagsgeschichte, sie macht den großen Reiz der Dioramen aus, die ein Stück weit auch an alte Wunderkammern erinnern.
Bei den zum Roman "Die Nächte der Pest" entstandenen Bildern ist das Spannende, wie Pamuk literarische Motive visuell entwickelt. Auf seinen bei Abendessen mit Freunden entstandenen Leporellos hat Pamuk spontan Stimmungen eingefangen. Und es gibt Fotos, wie sie Pamuk täglich zur Dokumentation von seinem Schreibtisch macht. Diese eint wiederum der individuelle Blick. Und um das Individuum sollte es, so heißt es in Pamuks im Katalog zu findendem "Museumsmanifest", in allen Museen gehen. Nicht um Nationen. Museen sollten auch keine Paläste, sondern "kleiner, individueller und billiger sein". Angesichts von zu viel Nationalismus überall und knapper Kassen klingt das nach überlegenswerten Ideen.
Orhan Pamuk. Der Trost der Dinge, bis 13. Okt., Lenbachhaus, Luisenstr. 33, www.lenbachhaus.de