München:Es lebe das Gestern

München: Was das Atomic Café ausmachte: Die Musik, der Glitzervorhang an der Bühne und das schöne orange Licht.

Was das Atomic Café ausmachte: Die Musik, der Glitzervorhang an der Bühne und das schöne orange Licht.

(Foto: Catherina Hess)

Es kommt einem vor wie ein Münchner Märchen aus guter, alter, distanzloser Zeit: Eine knappe Stunde im Stadtmuseum macht euphorisch, Erinnerungen an das Atomic Cafe und durchgemachte Nächte werden wach.

Von Christian Mayer

Rechtzeitig zum Jahreswechsel bräuchte man mal wieder einen ordentlichen Gefühlsverstärker, etwas mehr Ekstase im Leben. Man möchte gerne mal neben sich stehen, nicht mehr sitzen und warten, sondern lachen und tanzen - und schon gar nicht um 22.15 Uhr ins Bett gehen, mangels Alternativen. Vielleicht sollte man gleich ins Jahr 2023 zappen. Oder besser zurück in die Zeit, in der man mit anderen feiern konnte, als gäbe es kein Morgen? Ein Besuch im Stadtmuseum in der Ausstellung "Nachts" kann Wunder wirken. Aber Vorsicht: besser ein paar Taschentücher einstecken, denn manche Besucher sind so ergriffen vom Spaziergang in ihrer eigenen Vergangenheit, dass ihnen die Tränen kommen.

Zunächst schreitet man durch zwei Metalltüren mit Gucklöchern und steht in einer vertrauten Kulisse. Alles schimmert rötlich, auch der Glitzervorhang ist wieder da, die Schalenstühle und die Lava-Lampen, die einsame Säule zum Abstützen im Bedarfsfall und die abgewetzten Barhocker, der alte Gemini-Raumanzug und die kleine Space-Age-Sammlung hinter Glas. Das hier ist ein Stück funkelnde Münchner Stadtgeschichte, Erinnerungen an das 2015 abgewickelte und von Liebhabern in seinen Restbeständen bewahrte Atomic Cafe.

Aber kann das wirklich wahr sein, dass man in der Neuturmstraße 5 gegenüber einer hässlichen Parkgarage einen leider viel zu kleinen Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hat, mit irgendwelchen Britpoppern an der Gitarre und Songs wie "Fuck Forever" von den Babyshambles, den sie im Stadtmuseum etwas weiter hinten in einer Art Klangbadewanne spielen? Es kommt einem vor wie ein Münchner Märchen aus guter, alter, distanzloser Zeit.

Das Rauschmittel Erinnerung tut seine Wirkung

Ach, man möchte, wenn man zum zweiten und zum dritten Mal diese fantastische Ausstellung besucht, sofort in die Zeitmaschine springen und diese ganzen Münchner Clubs, die jetzt pandemietraurig verschlossen oder längst einer Luxussanierung zum Opfer gefallen sind, noch einmal in voller Blüte erleben. Man möchte im Blitz einen Adrenalinschub spüren, im Paradiso auf der Tanzfläche abheben und im Pimpernel dem Retro-Charme erliegen, man würde dann sogar noch etwas weiter zurückfliegen, etwa in die Registratur, ins Babalu oder in die Bongobar, von mir aus sogar ins Pacha, wo der damals schon yogisch gestraffte Tag- und Nachtphilosoph Michi Kern am Einlass stand, als Wächter der Doppelkirsche.

Jetzt ist man nach einer knappen Stunde im Stadtmuseum leicht euphorisch, das Rauschmittel Erinnerung tut seine Wirkung. Beschwingt tritt man hinaus in den Regen. Kann ja sein, dass es irgendwann so wird, wie wir es gerade im Nostalgiesturm erlebt haben, dass die Clubs wieder öffnen und das Leben live stattfindet - und dann gehen wir nie, nie wieder um 22.15 Uhr ins Bett.

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