Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Lieber Kurzarbeit als ausstellen

Viele Münchner Unternehmen haben an ihrem Personal in der Corona-Krise festgehalten, trotz schwieriger Auftragslage. Dennoch sind deutlich mehr Menschen arbeitslos als im Vorjahr. Die Agentur für Arbeit rät Betroffenen, sich weiterzubilden

Von Sven Loerzer

Die Corona-Pandemie hat auch den Münchner Arbeitsmarkt hart getroffen. Mit Beginn des Lockdowns im Frühjahr ist die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. "Aber die Kurzarbeit hat uns extrem stark geholfen", sagt Wilfried Hüntelmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit München. Dass 25 000 Betriebe Kurzarbeit meldeten, statt Beschäftigte zu entlassen, zeige, "dass sie an ihren Fachkräften festhalten". Denn sie zu halten sei deutlich leichter, als später wieder Fachkräfte zu gewinnen. Vom Sommer an hat sich die Situation wieder gebessert, im September und Oktober ging die Arbeitslosenquote wieder runter - und dennoch waren im Agenturbezirk mit rund 52 000 Menschen 53 Prozent mehr arbeitslos gemeldet als im Oktober 2019.

Der Lockdown light, der nun im November gilt, trifft viele der Branchen, die schon unter den Einschränkungen im Frühjahr litten. Trotz der schwierigen Situation wollen Hüntelmann und die Geschäftsführerin des Jobcenters, Anette Farrenkopf, den Betroffenen Mut machen, die Zeit zu nutzen, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Arbeitsagentur und Jobcenter setzen auf Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote. "Qualifikation ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit", sagt Hüntelmann. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung habe man es besonders schwer: "Helfer wechseln oft den Job, aber das ist nicht einfach in dieser Zeit." Um so wichtiger sei es nun, die Zeit der Arbeitslosigkeit dafür zu nutzen, um eine Berufsausbildung nachzuholen, statt einfach abzuwarten, bis die Corona-Pandemie vorbei sei.

Denn der Strukturwandel habe dadurch in einigen Bereichen noch zusätzlich an Fahrt aufgenommen, "insbesondere bei der Digitalisierung". Das Wissen der Mitarbeiter müsse damit Schritt halten, auch höher Qualifizierte sollten die Zeit nutzen, um sich da fit zu machen, betont Hüntelmann. Er appelliert deshalb vor allem auch an kleine und mittlere Unternehmen, die sich in Kurzarbeit befinden, diese Zeit zu nutzen und gerade jetzt in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten zu investieren: "Wir können die Betriebe dabei unterstützen, sich fit zu machen für die Arbeit von morgen." Stark betroffen vom Strukturwandel hin zum Onlinekauf ist der Non-Food-Handel, "da wollen sich viele Menschen aus dem Verkauf heraus verändern". Dabei könnten Qualifizierungsangebote für das Onlinemarketing helfen. Im Lebensmittelbereich sei der Personalbedarf trotz Zunahme von Lieferangeboten noch sehr stabil. Obwohl die Gastronomie wegen des Lockdowns stark betroffen ist, beobachtet Hüntelmann dort, "dass die Hoffnung sehr stark ist, dass es wieder besser wird". Die Bereitschaft, sich umzuorientieren, hin zu gefragten Berufen, ist deshalb gering. Unheimlich gesucht auf dem Arbeitsmarkt sind natürlich IT-Fachkräfte, Pflegende und Erziehende, aber auch Security-Leute. Chancenreich sind auch Fahrerinnen und Fahrer - für Lkw, Tram, Bus.

Die Zahl der Haushalte, die Hartz-IV-Leistungen vom Jobcenter bezogen haben, hatte vor Beginn der Pandemie mit etwas mehr als 35 000 gerade ihren bisherigen Tiefststand erreicht. Inzwischen ist sie auf 41 200 gestiegen, rund 5700 mehr als im Vorjahr. Der Lockdown light treffe auch viele Soloselbständige, die im Bereich Kunst, Kultur und Events tätig sind, sagt die Jobcenter-Geschäftsführerin. Angesichts dessen sei der erleichterte Zugang zur Grundsicherung, wie er jetzt bis Ende März verlängert werden soll, wichtig, wenn das Einkommen wegfällt. Diesen Menschen in der Krise Orientierung zu bieten, hat sich das Jobcenter zur Aufgabe gemacht.

Soloselbständige können sich beraten lassen, welche Möglichkeiten sich zur Qualifizierung bieten oder wie sie ihr Angebot digitalisieren können. Oder wie sie sich anders orientieren können, etwa wie sich Taxifahrer, denen das Geschäft weggebrochen ist, zum Busfahrer oder Fahrlehrer qualifizieren können. Eine Zumba-Trainerin habe jetzt zum Beispiel den Weg zur Erzieherin eingeschlagen, berichtet Anette Farrenkopf: "Jetzt ist die Zeit, um Abschlüsse nachzuholen." Denn der "schnelle Job geht nicht so schnell her". Stattdessen sei es wichtig, "digitale Grundkompetenzen zu erwerben, um am Leben teilzunehmen". Und dort, wo Sprachprobleme bestehen, könne man mit den Kursträgern am Ball bleiben, um die Sprache zu entwickeln. So sei der Spracherwerb auch über Online- und Teilzeit-Angebote möglich, damit er mit Beruf und Familie vereinbar ist.

Die Beratung konzentriere sich auf die Stärken, "wir schauen gezielt, was bringt der Mensch an Erfahrungen mit", sagt die Jobcenter-Geschäftsführerin. Und auch Hüntelmann bestätigt: "Wir können auf den Kompetenzen gut aufsetzen", sowohl den formalen als auch den nicht formalen.

Die Arbeitsagentur bietet Telefonberatung, aber bei Bedarf auch persönliche Beratung unter den üblichen Hygienevorkehrungen an. Arbeitnehmer können sich dazu und zur Arbeitslosmeldung an die Hotline 0800/455 55 00 oder 089/51 54 55 55 wenden. Arbeitgeber erhalten Auskunft, auch zum Kurzarbeitergeld, unter 0800/455 55 20 und 089/51 54 99 01. Klienten des Jobcenters wenden sich an ihre Integrationsfachkraft oder an das Servicetelefon 089/45 35 50. Wer das persönliche Gespräch sucht, aber sich ungern im geschlossenen Raum aufhält, kann beim Jobcenter "Walk and Talk", einen Beratungsspaziergang im Freien, unternehmen.

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SZ vom 11.11.2020/van
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