Antisemitismus in München:Judenfeindliche Hasskriminalität nimmt stark zu

Lesezeit: 3 Min.

Antisemitisches Plakat auf einer rechten Demonstration während der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar vergangenen Jahres. (Foto: Lorenz Mehrlich)

Hetzparolen, Beleidigungen, Schoah-Relativierung: Die Münchner Polizei registriert im vergangenen Jahr 97 Delikte, die Informationsstelle Rias dokumentiert sogar 183 Fälle.

Von Martin Bernstein

Einer der jüngsten Fälle judenfeindlicher Hetze liegt erst ein paar Tage zurück: Eine antisemitische Parole im Treppenhaus eines Supermarkts im Stadtteil Berg am Laim, begleitet von einem Hakenkreuz. Neun Tage lang fällt die Hetzschrift am Weg zur Tiefgarage keinem auf - oder niemanden interessiert es, dass wieder einmal Juden zur Zielscheibe werden. Wie so oft in München: 97 Fälle antisemitischer Hasskriminalität registrierte die Polizei im vergangenen Jahr, fast 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Im Vergleich zum ersten Corona-Jahr 2020 ist es eine Zunahme um 26 Fälle. Judenfeinde nutzen die Pandemie - und inzwischen zunehmend auch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine - gezielt für ihre Hetze. Das bestätigt auch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern. Bei den Fällen mit einem bestimmbaren politischen Hintergrund stehe an erster Stelle das verschwörungsideologische Milieu. 183 Fälle aus München wurden Rias 2022 gemeldet - im Vergleich zu 2020 eine Zunahme um 70 Prozent. Die Rias-Zahlen sind deutlich höher als die der Polizei, denn dort registriert man auch antisemitische Vorfälle, die mutmaßlich unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Etwa wenn auf einem Demo-Plakat jüdische Personen als weltumspannende Kraken abgebildet sind. Nahezu jeder dritte von Rias registrierte Übergriff könnte aber strafrechtlich relevant sein.

Dass es 2021 noch mehr Vorfälle gab (252), hat nach Angaben der Rias-Experten nichts mit einem aktuellen Abflauen judenfeindlicher Hetze zu tun, sondern mit dem Umstand, dass damals eine Person antisemitische Direktnachrichten von vielen unterschiedlichen Nutzern erhielt.

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Dabei sind die zahlreichen Fälle, in denen mehr oder weniger offen im Internet gegen Juden agitiert wird, noch nicht einmal mitgezählt. Kaum ein Tag, an dem in Münchner Telegram-Kanälen der verschwörungsideologischen Szene nicht gegen "die Rothschilds" oder den jüdischen Mäzen George Soros gehetzt wird oder westliche Politiker als "Marionetten" angeblicher "Strippenzieher" im Hintergrund diffamiert werden. Auf Versammlungen von Querdenker-Gruppierungen sind dieselben antisemitischen Chiffren in Reden zu hören oder auf Plakaten zu sehen.

Verschwörungsideologen, Rechtsextremisten und Israelhasser

Insgesamt 52 Versammlungen, auf denen antisemitische Äußerungen getätigt wurden, hat Rias 2022 in München dokumentiert. Neben verschwörungsideologischen und rechtsextremen Motiven gab es Hetze gegen Juden auch im Zusammenhang mit antiisraelischem Aktivismus. Die allermeisten bei oder von der Polizei angezeigten Fälle judenfeindlicher Hasskriminalität gehen auf das Konto rechtsextremer oder verschwörungsgläubiger Täter.

"Haben wir wirklich geglaubt, nach der Corona-Pandemie verschwinden alle Verschwörungsideologien wieder?", schreibt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im aktuellen Rias-Jahresbericht. "Nein, das war nicht zu erwarten." Eine der bitteren Folgen der ohnehin für viele Menschen beschwerlichen Corona-Zeit sei es, dass sich das verschwörungsideologische Milieu in der Gesellschaft festgesetzt habe. "Jüdinnen und Juden betrifft das unmittelbar", so Schuster.

Rias hat analysiert, aus welchen Denkmustern sich der Judenhass speist. Bei 111 Vorfällen spielte der Post-Schoah-Antisemitismus, der sich auf die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus bezieht, eine Rolle. Nicht selten gelten die Attacken gezielt den Münchner Gedenkorten: In der Tengstraße wird im April 2022 in das Erinnerungszeichen für die in Theresienstadt ermordete Mina Bergmann ein Hakenkreuz geritzt, das Todesmarsch-Mahnmal an der Blutenburg wird im Juli geschändet. An der Hackerbrücke entdeckt ein Passant im März einen Aufkleber mit einem gelben Stern und der Inschrift "ungeimpft". Dahinter ist gestreifter Stoff zu sehen, daneben die Aufschrift: "Wieder soweit?" Im Oktober verteilt ein Teilnehmer einer christlich-fundamentalistischen Kundgebung Visitenkarten, auf denen eine Internetseite beworben wurde, auf der die Schoah relativiert wird: "Abtreiben macht frei" ist dort zu lesen.

"Eine grässliche gesellschaftliche Normalität"

Erschreckend ist die von Rias Bayern wie auch von der Polizei dokumentierte Bandbreite antisemitischer Vorfälle: Judenfeindliche Schmähungen gibt es beim Gedenken an das Olympia-Attentat vor 50 Jahren im August (17 Fälle laut Rias) ebenso wie nach der Kontroverse um das Theaterstück "Vögel" seit November (23). Auf Google wird mit Formulierungen wie "sehr finstere Energie" oder "Dieses Volk wird seinem Ruf gerecht!" über israelische Restaurants hergezogen. In einem öffentlichen Umsonstbücherregal des Eine-Welt-Hauses hat jemand ein Buch platziert, auf dessen Cover ein Hakenkreuz in einem Davidstern abgebildet ist. Der persischsprachige Titel lautet übersetzt: "Israel ist der neue Faschismus".

Was die Polizei in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 meldete, lässt befürchten: Judenhass wird ein "relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen" bleiben, wie Rias-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı sagt, "eine grässliche gesellschaftliche Normalität". Anfang Februar sprühen Unbekannte die Parole "Juden raus" an die Mauer des Pasinger Karlsgymnasiums. Die Schulleitung zeigt den Vorfall nach Polizeiangaben erst nach einer Woche an. Die zwei Meter großen Schmierschriften sind da schon teilweise beseitigt. Mitte Februar pöbeln zwei Männer in einer Gaststätte in der Isarvorstadt andere Gäste mit judenfeindlichen Tiraden an, einer attackiert auch die alarmierten Polizisten. Ende März nimmt die Polizei im Englischen Garten fünf junge Männer fest, die antisemitische und nationalsozialistische Parolen gerufen haben.

Während dieser Text entstand, rief im Hauptbahnhof ein 36-Jähriger den Mitarbeitern des kommunalen Außendienstes NS-Parolen zu, sang ein Lied mit volksverhetzendem Text und warf mit judenfeindlichen Beleidigungen um sich. Dann behauptete er, dass er zuhause zwei Handgranaten habe. Gefunden wurden sie bislang nicht.

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