Süddeutsche Zeitung

Wochen gegen Rassismus:Wenn der Antisemitismus-Vorwurf ein größerer Skandal ist als die Judenfeindlichkeit

In den Münchner Kammerspielen wird über antijüdische Tendenzen auf der Bühne diskutiert. Natürlich geht es auch um das umstrittene Theaterstück "Vögel".

Von Martin Bernstein

Natürlich: "Vögel". Ein Abend über Antisemitismus in Kunst und Kultur unter der Überschrift "Über jeden Verdacht erhaben?" an den Münchner Kammerspielen - wie könnte er ohne Debatte über das am Metropoltheater gespielte, nach öffentlichen Protesten ausgesetzte, nach heftigen Diskussionen mit Änderungen erneut auf den Spielplan genommene und nach einem Veto des Autors nun doch dauerhaft abgesetzte Stück auskommen? Ein Stück, von dem die Literaturwissenschaftlerin Stella Leder, die Enkeltochter des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin, an diesem Abend sagt: "Es ist ein schlechter Text."

Die Veranstaltung ist Teil der "Internationalen Wochen gegen Rassismus", die Kammerspiele haben ihn gemeinsam mit der städtischen Fachstelle für Demokratie im Rathaus und mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern organisiert. Am Mittag hat Rias seine Bilanz antisemitischer Vorfälle im vergangenen Jahr vorgestellt. Auch darin ist ein eigenes Kapitel der Kontroverse um "Vögel" gewidmet.

Juden als im Hintergrund agierende Macht - ein typisches antisemitisches Klischee

Der Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr, die Unterstellung unlauterer Motive und eines geheimen Plans im Hintergrund, der Vorwurf der Zensur: Was Rias in seinem Jahresbericht über die "Vögel"-Debatte schreibt - das sei für jüdische Menschen in Deutschland auch nach 1945 Alltag, nicht nur in Kunst und Kultur, sagen Stella Leder und ihr Gesprächspartner Martín Valdés-Stauber. Der Dramaturg gehört seit 2017 zum künstlerischen Leitungsteam der Münchner Kammerspiele; er verantwortet am Theater das künstlerische Forschungsfeld "Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart" - die Aufarbeitung der Geschichte des Hauses in der NS-Zeit.

"Es war kein Zensurfall", sagt Stella Leder über die Absetzung des Stücks "Vögel" durch das Metropoltheater. Hinter diesem Vorwurf stecke die "wabernde Vorstellung, dass Jüdinnen und Juden Macht haben in dieser Gesellschaft". Wie überhaupt - das machen die Diskussion an den Kammerspielen und die von den Ensemblemitgliedern Edith Saldanha und Edmund Telgenkämper gelesenen Texte jüdischer Autoren deutlich - Judenfeindlichkeit sich häufig tarne: als Angst vor einer angeblichen Machtposition, als Einzelmeinung, als trotzige Naivität ("Man wird doch noch fragen dürfen"), als Kampf für die Meinungsfreiheit.

Auch die Experten von Rias erkennen in der Debatte um das Theaterstück ein seit 1945 wiederkehrendes Muster: "Es wird Kritik wegen antisemitischer Inhalte geäußert. Die Kritisierten sehen sich mit dem schlimmsten Vorwurf überhaupt, dem 'Antisemitismusvorwurf' konfrontiert, und antworten mit abwehrenden Aussagen. Im Zuge dessen werden Jüdinnen und Juden gesucht, die keinerlei Antisemitismus gesehen haben wollen."

Der Verband jüdischer Studenten in Bayern (VJSB) und die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD), die mit einem offenen Brief die Debatte über "Vögel" angestoßen haben, erhielten umgekehrt nach Rias-Angaben antisemitische Zuschriften. Für den VJSB-Vorsitzenden Michael Movchin zeigen diese Reaktionen, "dass Antisemitismus kein Problem vermeintlicher gesellschaftlicher Ränder ist, sondern auch in der sogenannten Mitte verankert ist".

Niemand muss Teil der "Schuldabwehrgemeinschaft" sein

Wer Judenfeindlichkeit thematisiere, ernte dafür oft "nebulös antisemitische Äußerungen": Nicht der Antisemitismus sei dann der Skandal, so Leder und Valdés-Stauber, sondern die erhobenen "Antisemitismusvorwürfe", gegen die man sich wehren zu müssen glaube. Doch niemand müsse Teil dieser "Schuldabwehrgemeinschaft" werden, sagt Stella Leder: "Man könnte die Debatte auch sehr, sehr anders führen." Wie, das deutet Martín Valdés-Stauber an. Es gehe schlichtweg darum, das eigene Unwissen zuzugeben und sich Expertise zu holen: "Mit wem müssen wir reden? Wen müssen wir dazuholen?"

Eigentlich ist es eine ganz einfache Frage, die Stella Leder aufwirft: "Was bedeutet es, wenn ich von Antisemitismus betroffen bin?" Die Perspektive betroffener jüdischer Menschen, das "Gefühl, ich bin hier mitgedacht", könnte als Leitfrage dienen, nicht nur im Kulturbetrieb. Dass das Leben in diesem Land "extrem schwierig" sei, diese Einsicht sei immer präsent in jüdischen Familien in Deutschland - auch nach 1945, das eben alles andere als eine "Stunde Null" gewesen sei, was den Antisemitismus in der Gesellschaft angehe.

Wenn an die Stelle der Beschäftigung mit Antisemitismus der Versuch trete, sogenannte Antisemitismusvorwürfe abzuwehren, dann bestärke das jüdische Menschen in dem "Gefühl, das Zuhause zu verlieren", so die Literaturwissenschaftlerin. Antisemitismus mit Israel- und Schoahbezug im Kunst- und Kulturbereich werde gleichwohl relevant bleiben, prognostizieren die Verfasser des Rias-Jahresberichts.

Und weil, so Valdés-Stauber, Theater "mitwirken an der Selbstbeschreibung der Gesellschaft", steht am Ende des Abends in den Kammerspielen ein bitteres Zitat des polnisch-jüdischen Lyrikers Stanisław Jerzy Lec: "Und der arme Hitler dachte, der Antisemitismus wäre allein Sache des Nationalsozialismus."

Die Münchner "Internationalen Wochen gegen Rassismus" mit Vorträgen, Diskussionen, Workshops und Ausstellungen dauern noch bis Sonntag. Am Donnerstag um 19 Uhr veranstaltet die Evangelische Stadtakademie in der Herzog-Wilhelm-Straße 24 und im Netz eine Podiumsdiskussion "Antisemitismus heute: uralt und doch gefährlich".

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