Im Schreiben über diese Zeit könnte ich bei jedem Halbsatz abbiegen und ein anderes Themenfeld aufmachen: Diese Zeit ist ein Balanceakt zwischen dem Gefühl, extrem privilegiert zu sein, und dem Gefühl, dass mein Arbeitsbereich, die Kunst und Kultur, als kaum relevant gehandelt wird - dabei ist es doch eine Form der Gesellschafts-Forschung, die wir brauchen, und in Zeiten des Umbruchs und des Übergangs (also jetzt!) ganz besonders. Ich befinde mich in einer Reduktion aufs Private in einem Bereich, der nicht privat ist, und dieses Jahr hat mir die Notwendigkeit des öffentlichen Diskurses in meiner/unserer Arbeit noch deutlicher gemacht.
Diese Pandemie funktioniert wie eine Lupe auf alles, was eh schon schwierig/ungerecht ist, und auf alles, was ziemlich schön ist. Was für ein Glück, dass ich mit meiner Beziehung nicht nur lebe, sondern auch künstlerisch arbeite - das erleichtert einiges - und mit meinen Partnerinnen sehr gerne sehr viel Zeit verbringe und mich in unserer Wohnung wohlfühle und hauptberuflich inzwischen als Katzenmatratze tätig bin.
Und wie gut, dass wir den "Playground", einen Raum für künstlerische Recherche und Austausch, 2019 eröffnet haben, so dass wir in (Klein-)Formaten immer wieder in Dialog bleiben konnten mit Kolleg*innen, aber auch mit der Stadtgesellschaft.
Und was für ein Unglück, dass sich die globale gesellschaftliche Schere und Ungleichheit weiter öffnet: Vielleicht können wir diesen Herbst die Produktion "Dive" (Premiere war letzten März geplant) zusammen mit vier Tänzerinnen und Tänzern aus Europa und drei Tänzerinnen und Tänzern aus Südafrika vor Publikum zeigen; aber bekommen die südafrikanischen Kolleginnen und Kollegen ein Visum? Wir würden wahrscheinlich eines dorthin bekommen, aber umgekehrt? Denn bestimmt gibt es wieder Ostern, Pfingsten oder sonst ein Familienfest - wie absurd dieser Fokus auf die (christliche) Familie -, leben wir nicht schon längst anders, in anderen Lebens- und Liebesgemeinschaften?
Also Aufschrei und Abwarten ... Und nach bisher zwei nicht zur Premiere gekommenen Arbeiten konzentrieren wir uns auf unser neues Stück "Über die Wut", das hoffentlich Mitte Mai im Rahmen des Dance-Festivals an den Kammerspielen gezeigt wird. Ich hätte so gerne mehr als zwei Daumen an meinem Körper, um sie dafür zu drücken.
Es ist die Gemeinsamkeit, die ich vermisse, die bei einer Live-Performance so magisch ist: Es gibt eine bestimmte Form der Konzentration, die nur durch die gemeinsame Aufmerksamkeit entsteht, ein kollektives Wahrnehmen, denn allein durch die Anwesenheit anderer im selben Raum gucke und höre ich anders, und deren Perspektive mit. (Weshalb die Frage, wer Zugang zu den Kulturinstitutionen hat, so wichtig ist.)
Richtig gut ist die Zeit nicht, mich retten Musik, Texte, Filme ... und da schließt sich der Kreis, alles Künstlerinnen und Künstler, Philosophinnen und Philosophen, die mit mir durch diese Zeit gehen und darüber hinaus. Vielleicht ist es einfach eine Zeit des (schmerzvollen) Übergangs. Denn "übergehen" müssen wir, der Traum von Vor-Covid ist ein Fake, war doch die Vor-Covid-Zeit weder eine gerechte noch eine emphatische Zeit noch eine Zeit mit Zukunft. Wir brauchen Veränderung von Grund auf - da kommt mein choreografisches Denken angerauscht -, sind wir nicht immer bodies-in-relation - Körper im Bezug auf andere/s (und damit meine ich alles Leben auf diesem Planeten).
Let's start it now - and together!
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