Süddeutsche Zeitung

Tohru in der Schreiberei:Jeder Gang hat seinen Twist

Ein Abendessen im Zwei-Sterne-Restaurant Tohru ist ein Gesamtkunstwerk. Protz und Chichi der Spitzengastronomie fehlen, weil es schlicht um Zutaten und das Kombinieren geht.

Von Kurt Kuma

Die Haustür der Burgstraße Nummer 5 ist recht leicht zu finden. Aber im Inneren, auf einer schmalen, steilen Holzstiege, trennen sich die Wege der Neulinge von denen der Stammkundschaft. Die Unerfahrenen stürmen in den zweiten Stock hinauf. Die anderen wissen, dass der Zugang zum derzeit wohl spannendsten Restaurant Münchens im ersten Stock zu finden ist, hinter einer unscheinbaren, fast besenkammerartigen Tür.

Man kann sich schon vertun in diesem 450 Jahre alten Bürgerhaus, der "Schreiberei", wie die Münchner sagen. Doch irgendwann hat auch der letzte der drei Dutzend Abendgäste den Weg gefunden und die innenarchitektonische Sensation betreten, die sich auftut. Zwischen warmtönigen Wänden, mittelalterlichen Mauerresten und runden Massivholztischen schreitet man über einen orange-bronzenen Flauschteppich in den Hauptraum oder rechter Hand in das smaragdgrüne Separee. "Oscarreif" nannte ein SZ-Kollege treffend das Interieur der im Januar eröffneten, neuen Wirkungsstätte des Münchner Starkochs Tohru Nakamura. Tatsächlich fühlt man sich ein wenig wie ein Eindringling in edlen Privatgemächern - wäre der Empfang nicht so herzlich und der Aperitif bereits gekühlt.

Bei einem Glas Champagner (oder wahlweise perlendem Edelsake) entnimmt man einer Schatulle das Abendmenü, das als gedruckte Depeche gestaltet ist. Das Prinzip ist einfach: Das Essen kostet 255 Euro plus Getränke. À la carte gibt es nicht. Zehn Gänge sind im Telegrammstil aufgelistet. Womit der Rätselspaß beginnt. Was war nochmal der Unterschied zwischen Chawanmushi und Katsuobushi?

Willkommen in Tohru Nakamuras Reich. Wie keinem anderen gelingt es dem Deutschjapaner, der bereits mit dem Werneckhof in den Michelinsternenhimmel aufgestiegen war, den Zauber, die Frische, die Leichtigkeit japanischer Ingredienzen mit französischen Klassikern zu verquicken. Nakamura tut für die Spitzengastronomie, was der britische Modeschöpfer Paul Smith in der Modewelt erschuf: klassisches mit einem Twist. Ja, es ist ein Sakko, aber die Knopflöcher sind lila, und das Einstecktuch ist gestreift.

Schon beim ersten Gang liegt ein Stück bayerischer Forelle auf einem hauchzarten Eierflan (Chawanmushi) mit sanfter Sojanote. Obendrauf kam, dem Sommerabend angemessen, ein Löffel geschabter Eisflocken, wie sie in Japan für eine beliebte Nachspeise verwendet werden. Und so begann eine abendfüllende wie kurzweilige Darbietung, eine dramaturgisch ausgefeilte Inszenierung, voll permanenter Spannung auf das, was da noch kommen mag, Cliffhanger und Plotpoints inklusive.

Jedes einzelne Gericht erlebten wir als bunt und filigran gestaltetes Kunstwerk, ohne den Protz und Chichi, der in der Spitzengastronomie mitunter anzutreffen ist. In der Schreiberei geht es um Zutaten und das Kombinieren. Wagyu, Sauerampfer, Algen. Spargel, Sakura, Koji.

Jeder Gang hat seinen Twist. Sogar Nummer drei, an sich nur ein Tässchen Dashi, dem japanischen, aus Seetang gebrühten Pendant einer Consommé, wird am Tisch in Form einer kleinen Teezeremonie mit Körnern von geröstetem Reis veredelt. Lediglich ein Holzgestell, auf dem Steakmesser für den Fleisch-Hauptgang (Nummer neun auf der Depeche) angerichtet wurden, fanden wir zwar ulkig, aber auch ein wenig übertourt. Mit diesem Werkzeug hätte man auch einen halben Ochsen filetieren können. Dabei war nur ein Stückchen Lamm zu bearbeiten. Um dieses samt zweier Saucen, eine goldgelbe Kurkuma-Emulsion und ein dunkelsüßherbes Senfsaat-Demiglace, auf die Zunge zu befördern, hätten wir lieber die Finger verwendet als schwere Waffen.

Selbst nach dem Dessert, einem appetitlichen, erfrischenden, aber nicht aufgetürmten, sondern filigran und farbenfroh angerichteten Schälchen aus Mousse, Kügelchen, Eis und Knusperkörnchen (Rhabarber, Sudachi, Matcha und gerösteter Reis, sagte die Menü-Depeche), können nimmersatte Gäste noch eine ganze Batterie an süßen Fondants genießen. Darunter eine auf einer Löffelkelle servierte Blase mit flüssiger Schokolade, die man zwischen Gaumen und Zunge platzen lässt. Ein wunderbarer Grund, um noch ein Gläschen Armagnac zu rechtfertigen.

Überhaupt, die Gläschen: Wie die eingangs erwähnte Schatulle verrät, wird auch eine Getränkebegleitung angeboten, wahlweise sieben Gläser Wein oder Sakes. Wir beließen es bei einem kräftigen Chardonnay aus Österreich, mit dem wir uns an jenem Abend bestens anfreundeten. Genannt sei auch die überaus schmackhafte alkoholfreie Variante dreier kalter Tees, einer weiß, einer grün, einer Kombucha. Eine echte Alternative zum Alkohol, allerdings auch preislich (55 Euro).

Der Abend sorgt für Gesprächsstoff wie eine Kunst-Biennale

Den Service erlebten wir zugewandt und humorvoll. Lediglich während der Erläuterungen zu den kredenzten Speisen hätten wir eine Langsam-Taste gebraucht. Woraus bestand nochmal die weiße Mousse neben dem gerösteten Spargel (Gang sieben)? Oder die zur Blüte geformte Flocke neben dem Stück Bonito (der zweiten Fischvorspeise): War das nun Maitake oder Myoga?

Die SZ-Kostprobe

Die Restaurant-Kritik "Kostprobe" der Süddeutschen Zeitung hat eine lange Tradition: Seit 1975 erscheint sie wöchentlich im Lokalteil, seit einigen Jahren auch Online und mit einer Bewertungsskala. Etwa ein Dutzend kulinarisch bewanderter Redakteurinnen und Redakteure aus sämtlichen Ressorts - von München, Wissen bis zur Politik - schreiben im Wechsel über die Gastronomie in der Stadt. Die Auswahl ist unendlich, die bayerische Wirtschaft kommt genauso dran wie das griechische Fischlokal, die amerikanische Fastfood-Kette, der besondere Bratwurststand oder das mit Sternen dekorierte Gourmetlokal. Das Besondere an der SZ-Kostprobe: Die Autorinnen und Autoren schreiben unter Pseudonym, oft ist dies kulinarisch angehaucht. Sie gehen unerkannt etwa zwei- bis dreimal in das zu testende Lokal, je nachdem wie lange das von der Redaktion vorgegebene Budget reicht. Eiserne Grundregeln: hundert Tage Schonfrist, bis sich die Küche eines neuen Lokals eingearbeitet hat. Und: Nie bei der Arbeit als Restaurantkritiker erwischen lassen - um unbefangen Speis und Trank, Service und Atmosphäre beschreiben zu können. SZ

Klar, ein Abend im Zwei-Sterne-Restaurant ist kein Kochseminar. Aber wer verstehen will, wie ... ach was, Schluss mit der Theorie, wir ließen uns treiben. Und am Ende war für ähnlich viel Gesprächsstoff gesorgt wie nach dem Besuch einer Kunst-Biennale oder einer großen Oper. Gang Nummer zwei zum Beispiel, eine Art Minikrokette mit einer Messerspitze Kaviar und frittierten Fäden von Orangenzeste: War das eine freche, aber gelungene Kreation gewesen? Oder raubte es dem Kaviar seinen Charakter? Wie auch immer, geschmeckt hat es allen.

Also, Karten auf den Tisch, gab es einen persönlichen Favoriten? Ganz subjektiv? Ja, eindeutig. Das war der Taschenkrebs, Position vier auf dem Menü. Vielleicht war es dem Sommerabend geschuldet, aber kaum je hat ein Gericht die pralle Frische des Atlantiks im Gaumen derart explodieren lassen. Die zarten Fasern des Krebses, gepaart mit dem Umami einer gegarten Stabmuschel und der luftigen Säure einer grünen Vinaigrette... herrjeh, Herr Nakamura, von diesem Gang hätten wir auch zwei genommen. Oder drei.

Weglassen? Nein!

Und dafür etwas anderes weggelassen? Nunja, der Veggie-Gang aus gegrilltem Spargel mit Mandelbutter und Koji-Pilz hatte es nicht ganz leicht zwischen den Fäden aus Wagyu-Rind auf Spitzkohl und dem butterzarten Stück eines Tiefseefisches namens Kinmedai mit beurre blanc, der lustigerweise zu Deutsch Glänzender Schleimkopf heißt.

Aber, nochmal: weglassen? Nein. Niemals. Man würde ja auch aus einem guten Buch keine Kapitel herausreißen, nur weil manche Stellen spannender sind als andere.

Ein Abend bei Tohru ist ein Gesamtkunstwerk. Ein teures. Aber auch ein bleibendes.

Tohru in der Schreiberei, Burgstraße 5, 80331 München. Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag ab 19 Uhr, Telefon: 089/21529172.

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