SZ-Serie Olympisches Erbe:Als Olympia eine Riesenparty war

SZ-Serie Olympisches Erbe: Entspannt gewonnen: Obwohl sie viel feierten, besiegten die Puerto Ricaner 1972 das deutsche Basketball-Team 74:81.

Entspannt gewonnen: Obwohl sie viel feierten, besiegten die Puerto Ricaner 1972 das deutsche Basketball-Team 74:81.

(Foto: imago sportfotodienst)

Disko, Wettkampf, Disko: Den Sportlern geht es bei den Spielen von München 1972 nicht nur ums Gewinnen, sondern vor allem um Spaß - zumindest bis zum Überfall palästinensischer Terroristen auf das israelische Team.

Von Joachim Mölter

Die Berichterstatter staunten nicht schlecht, als ihnen an diesem 30. August 1972 zugetragen wurde, dass die Basketballer aus Puerto Rico ihren unerwarteten 79:74-Erfolg über Weltmeister Jugoslawien am Tag zuvor ausgiebig gefeiert hatten, nämlich bis in die frühen Morgenstunden. Schließlich war die Vorrunde des olympischen Turniers noch in vollem Gang, und bereits am Abend stand die nächste Partie auf dem Programm. Noch mehr staunten die Berichterstatter freilich, als sie erfuhren, dass die Puerto Ricaner auch schon in der Nacht vor dem Vergleich mit dem Weltmeister recht lange unterwegs gewesen waren. "Bis zwei Uhr früh amüsieren sich mehrere Spieler mit neu gewonnenen Freunden aus der Ordnerschar (es sind bekanntlich auch Mädchen darunter) in Schwabings einschlägigen Basketballkneipen", teilte die SZ ihren Lesern mit.

So ging das also zu unter den Sportlern während der Olympischen Spiele von München. "Es war eine Riesenparty. Die Stimmung, das Wetter, alles war gut", erinnert sich Holger Geschwindner, damals Kapitän der deutschen Basketball-Auswahl: "Am Abend vor unserem Eröffnungsspiel gegen die Puerto Ricaner haben wir im ,Meadows' zusammen mit ihnen auf den Tischen getanzt." Das "Meadows" war seinerzeit der Treffpunkt schlechthin für die Münchner Basketballszene, und dorthin hatte der deutsche Kapitän auch die feierfreudigen Sportfreunde aus der Karibik gelotst. "Nach Schwabing konnte man zu Fuß laufen vom Olympischen Dorf aus", sagt Geschwindner, "und in Schwabing fand damals alles statt." Auch in dieser Hinsicht wurde München seinem Anspruch gerecht, ein Olympia der kurzen Wege auszurichten.

Holger Geschwindner hatte das Terrain ausgiebig sondiert, er war schon zu Beginn der Siebzigerjahre vom MTV Gießen zum USC München gewechselt - vor allem, um Olympia mitzuerleben und dessen Flair aufzusaugen, das Lebensgefühl einer aufblühenden Stadt zu inhalieren. Die hatte ihm zudem auch als Student der Mathematik und Physik einiges zu bieten. Er ist bis heute beeindruckt von der Zeltdach-Konstruktion und ihrer Berechnung, ganz ohne Computer-Programme. "Das ist nach wie vor ein Highlight", findet er selbst ein halbes Jahrhundert später noch.

SZ-Serie Olympisches Erbe: Holger Geschwinder in den Siebzigern, als noch vieles anders war.

Holger Geschwinder in den Siebzigern, als noch vieles anders war.

(Foto: imago sportfotodienst/imago/Sven Simon)

München hatte eine starke Anziehungskraft entwickelt durch die Olympischen Spiele. Die Stadt öffnete sich der Welt und der Moderne; im Zuge von sexueller Revolution und Aufklärung breitete sich eine gewisse Freizügigkeit aus. Ein Jahrzehnt nach Einführung der Anti-Baby-Pille und ein Jahrzehnt vor Ausbruch der Immunschwäche-Krankheit Aids konnten junge Menschen unbeschwert ausprobieren, was möglich war. Und nicht nur in sexueller Hinsicht war vieles möglich. Zum Beispiel in einem Porsche in der Demonstration einer kommunistischen Gruppierung mitzufahren, wie es Geschwindner in jener Zeit einmal getan hat. Er sei da zufällig hineingeraten, versichert er, und ein paar Demonstranten hätten sich halt auf das Auto gesetzt und im Schritttempo ein Stück auf der Leopoldstraße mitnehmen lassen. Leben und leben lassen, damals hat das funktioniert.

Ursprünglich hatte der aus einer Architektenfamilie stammende Geschwindner das gesparte und von seinen Eltern zugeschossene Geld ja in einen Jaguar E-Type investieren wollen, erzählt er nebenbei: "Aber da konnte ich das Gaspedal mit meiner Schuhgröße 50 nicht bedienen. Beim Porsche hat alles gepasst." Jung, übermütig und lebenshungrig - so war die Generation München '72.

Im Englischen Garten wurden in jenem Sommer die Fotos für die erste Ausgabe des deutschen Playboy gemacht, mit einer Münchner Studentin und vergleichsweise züchtig. Da waren die Frauen, die sich nebenan im Gras sonnten, leichter bekleidet. "Barfuß bis hinauf zu den Ohrringen", formuliert es Geschwindner. Zu jener Zeit wurde das Bild von München und den Nackerten im Englischen Garten geprägt, das noch sehr, sehr lange in amerikanischen und asiatischen Reiseführern beschrieben wurde und Touristenscharen zum Vorbeischauen animierte.

SZ-Serie Olympisches Erbe: Münchner Freizügigkeit: Als kurz vor den Olympischen Spielen ein Modegeschäft verspricht, die ersten fünf nackten Kunden kostenlos einzukleiden, stürmen mehr als 100 Studenten den Laden.

Münchner Freizügigkeit: Als kurz vor den Olympischen Spielen ein Modegeschäft verspricht, die ersten fünf nackten Kunden kostenlos einzukleiden, stürmen mehr als 100 Studenten den Laden.

(Foto: Heinz Gebhardt/imago images)

Und dann kamen im August auch noch die Sportler und Sportlerinnen in die Stadt, "zehntausend wohlgeformte Körper", wie sich Geschwindner erinnert: "Dass da die Hütte gebrannt hat, kann man sich vorstellen. Die Stadt hat gebrummt." Und die Athleten bestaunten sich gegenseitig. "Die sind alle Weltklasse, und viele kennst Du nicht einmal", sagt Geschwindner: "Aber dieses Wissen, dass die alle auf Weltklasse-Niveau sind - das ist ein irrsinniges Gefühl, das kriegst Du nicht auf die Rolle."

Er erinnert sich an den Moment, als einmal der kubanische Schwergewichtsboxer Teofilo Stevenson im Olympischen Dorf in die Sauna kam, 1,90 Meter groß, muskulös und modelliert wie eine griechische Statue: "Den hätte man sofort auf einen Sockel stellen können." Oder an den sowjetrussischen Gewichtheber Wassili Alexejew, eher breit als hoch. "Der hat ausgesehen, als könnte er kein Glas Wasser umwerfen", erzählt Geschwindner; aber als er mit seiner Mannschaft einmal nach dem drei Zentner wiegenden Superschwergewichtler in die Trainingshalle kam, "da haben wir die Hantel zu sechst von der Bühne gewälzt, die er vorher hoch gehoben hatte".

Im Olympischen Dorf traf und amüsierte sich die Jugend der Welt, "es war alles extrem locker", schwärmt Geschwindner. Zu dieser extremen Lockerheit gehörte damals auch die großzügige Auslegung von Vorgaben des Organisationskomitees. "Es gab Regeln, dass man abends um zehn Uhr im Olympischen Dorf zu sein hatte", weiß Geschwindner noch, "aber ich weiß nicht, wer sich daran gehalten hat." Die Athleten aus dem Ostblock vermutet er, die galten ja damals generell als in jeder Hinsicht diszipliniert und kontrolliert. "Für alle anderen war klar: Das wird 'ne Riesenparty."

Mit dem Attentat dreht sich die Stimmung

Und dann kam der 5. September und der Überfall palästinensischer Terroristen auf das israelische Team. "Wenn mitten in der Party jemand so dazwischen kommt, ist das ein Riesenschock", sagt Geschwindner: "Keiner wusste, wie man reagieren sollte." Die Basketballer standen am Nachmittag in der Rudi-Sedlmayer-Halle und warteten auf einen Bescheid, ob sie nun wie geplant gegen Australien spielen sollten oder nicht. Es ging rein in die Umkleide, wieder raus aufs Spielfeld. Mehr als zwölf Stunden nach Beginn des Dramas wurde entschieden, dass die Mannschaften anzutreten hatten. Doch bei Holger Geschwindner und seinen Mitspielern - und nicht nur bei ihnen - war die Luft raus, die Stimmung dahin.

Die Lebensfreude der Münchner wurden freilich nur kurzzeitig gedämpft, Leichtigkeit und Heiterkeit der Spiele hatten längst auf die Stadt ausgestrahlt und sollten sie noch einige Jahre prägen. Der Musik-Produzent Giorgio Moroder ließ sich nach Olympia zu seinem Munich Sound inspirieren, die Rolling Stones kamen zu ihren nächsten Plattenaufnahmen in die Musicland-Studios, Queen-Sänger Freddie Mercury war auch ständig zu Besuch. Der Film- und Fernsehregisseur Helmut Dietl verewigte das leichte und leichtsinnige Lebensgefühl jener post-olympischen Zeit in Serien wie "Der ganz normale Wahnsinn", "Monaco Franze" und "Kir Royal".

Mittlerweile geht es freilich wieder beschaulicher und betulicher zu in München, mitunter sogar prüder. Die neuerdings wieder aufgekommene Debatte zum Beispiel, ob weibliche Brüste beim Schwimmen in den Münchner Bädern bedeckt zu sein haben, war Anfang der Siebzigerjahre schon mal erledigt. Es legt sich auch kaum noch jemand nackt in den Englischen Garten, was wohl nicht unbedingt an einer Schamhaftigkeit liegt, sondern wohl eher an den sozialen Medien. Die schnelle Verbreitungsmöglichkeit von Bildern hält wohl viele davon ab, sich allzu freizügig in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Heute werden etliche Tausend Kondome verteilt

Die altehrwürdigen Olympier haben nach 1972 auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert, indem sie die strenge Trennung zwischen Männer- und Frauen-Dorf, wie es sie in München noch gab, irgendwann mal aufgehoben haben. Dem bei den Spielen sowieso keinen Einhalt zu gebietendem Streben nach außersportlichem Vergnügen kommen die Veranstalter inzwischen nach, indem sie den Athletinnen und Athleten etliche Tausend Kondome zur Verfügung stellen. Die genaue Zahl wird jeweils vor Beginn der Veranstaltung verkündet, ebenso wie der Zeitpunkt, an dem sie aufgebraucht sind.

Aber auch was die Partys angeht, scheint die Sportszene ihren Höhepunkt hinter sich zu haben. Bei den kürzlich zum 50-Jahr-Jubiläum der 72er-Spiele ausgetragenen European Championships waren die Sportler und Sportlerinnen jedenfalls sehr zurückhaltend. "Wir sind froh, wenn wir unter uns bleiben können", sagte beispielsweise Jonas Wiesen, der Steuermann des Deutschland-Achters. Durch die Auswahl des Deutschen Ruderverbandes seien in diesem Jahr schon mehrere Corona-Wellen geschwappt, erzählt er: "Das können wir uns nicht leisten." Die Athleten und Athletinnen sind heutzutage auch mehr durchgetaktet als damals.

Ruderer, Triathleten, Radsportler reisten zum Beispiel unmittelbar nach ihren Wettkämpfen in München ab zum nächsten Trainingslager, zum nächsten Wettbewerb, zur nächsten Sponsoren-Verpflichtung. Da bleibt so gut wie keine Zeit mehr zum Feiern, schon gar nicht zwischen den Wettkämpfen, wie es die Puerto Ricaner 1972 getan haben. Heutzutage geht es um Leistungsnachweise, Kaderzugehörigkeiten, Sporthilfe. Da gingen die Amateure von 1972 wesentlich unbeschwerter an die Sache ran, findet Holger Geschwindner: "Wir hatten es nicht besser, aber wir wussten, es kann nur besser werden. Heute denken alle, es kann nur schlechter werden."

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