Mormonen-Aussteiger:Wenn die Zweifel zu groß werden

Kein Kaffee, kein Alkohol, kein Sex vor der Ehe: Lars Bandholdt war 30 Jahre lang gläubiger Mormone. Dann stieg er aus - kein leichter Schritt für ihn. Heute hilft der Münchner Manager anderen Mormonen, die zu zweifeln beginnen.

Rani Nguyen

Mit 30 musste er lernen, selbständig zu denken. Lars Bandholdt (Name geändert) kam sich damals vor wie ein Computer, der neu programmiert wird. Jahrelang war der heute 43-Jährige, der inzwischen Manager einer Medienagentur in München ist, Mormone. Dann stieg er aus. Dieser Ausstieg, das war das Ende eines langen, eines schwierigen Weges.

Mormonen-Aussteiger: Der 43-Jährige in seinem Münchner Büro: "Wie ein Computer, der neu programmiert werden musste."

Der 43-Jährige in seinem Münchner Büro: "Wie ein Computer, der neu programmiert werden musste."

(Foto: privat)

Lars Bandholdt entstammt einer Mormonenfamilie in sechster Generation. Die Kirche, die sich selbst als christliche Religion sieht, ist umstritten, manche bezeichnen sie sogar als Sekte. Bandholdts Mutter kommt aus einer Familie, die schon zu Beginn des Mormonentums in Deutschland, im 19. Jahrhundert, Kirchenmitglied war. Sein Vater ließ sich aus Liebe zur Mutter taufen. Er wird so gläubig, dass er es bis zum Bischof, dem Leiter einer Gemeinde, bringt.

Nach Angaben der Mormonen leben in Deutschland heute fast 40.000 Gläubige, weltweit sind es mehr als 14 Millionen. Angeblich steigt die Zahl der Mitglieder. "In München gab es einmal vier Gemeinden, heute sind es nur noch zwei oder drei", sagt dagegen Bandholdt.

Dass er anders ist als die meisten anderen Kinder in seiner Heimat Baden-Baden, bemerkt Bandholdt früh. Sonntags dürfen er und seine Geschwister nicht mit den anderen Kindern spielen, stattdessen stehen Gottesdienst und gemeinsames Bibellesen mit der Familie auf dem Programm. Bis zu fünfmal täglich betet seine Familie gemeinsam. Mit 14 Jahren studiert er jeden Morgen eine Stunde lang die heiligen Schriften, zweimal wöchentlich fährt er mit seiner Familie nach Karlsruhe, in die nächste Kirchengemeine.

Während seine Freunde als Teenager auf Parties gehen, sich betrinken, rauchen oder Sex haben, ist er mit 16 bereits Priester, tauft Menschen und segnet Kranke. Er sieht sich als Teil einer Elite. Aber auch er kommt in die Pubertät und hat Freunde außerhalb der Kirche. Bei der Schulabschlussfeier trinkt er ein Bier - und im Zeltlager küsst er eine Mormonin. Als Bandholdts Vater das erfährt, zitiert er ihn zu sich: Der Jugendliche muss beten und um Vergebung bitten. Er schämt sich so sehr für seine Tat, dass er in Tränen ausbricht und noch lange von Schuldgefühlen geplagt wird.

"Nur auf der Toilette war ich allein"

Nach der Schulzeit beginnt Bandholdt eine Lehre zum Mediengestalter. Er hat den Traum, Grafik-Designer zu werden. Er färbt sich seine Haare weiß, hört elektronische Musik und geht in die Disco. Er denkt deshalb, kein guter Mormone zu sein. Im Urlaub verliebt er sich in Mädchen. "Ich war aber zu schüchtern und traute mich nicht, die Keuschheitsgelübde zu brechen", sagt er heute. Bandholdt hinterfragt zwar, was seine Eltern und Jugendleiter der Kirche ihm erzählen. Er äußert Zweifel bei seinen Eltern, aber verwirft sie wieder. Der Druck in der Familie und Gemeinde ist immens.

Bei einem Besuch in Salt Lake City, dem Zentrum der Kirche, faszinieren ihn die imposanten Gebäude und die Gemeinschaft dann so sehr, dass er doch auf Mission geht. Von jedem Mormonen wird erwartet, dass er einmal im Leben einen zweijährigen Missionsdienst ableistet. Dabei werden die Missionare komplett aus ihrem sozialen Umfeld gelöst und müssen Menschen auf der Straße von ihrem Glauben überzeugen. Bandholdt wird in verschiedene bayerische Städte entsendet.

Während seiner Missionszeit schreibt Bandholdt in sein Tagebuch: "Ich habe das Gefühl, dass wir hier zu Einheitsmenschen erzogen werden." Trotz seiner Zweifel macht er weiter. Heute sagt er, dass er einer Art Gehirnwäsche ausgesetzt war.

Zwei Jahre lebt er auf engstem Raum mit seinem Missionarskollegen. "Nur auf der Toilette war ich allein", sagt Bandholdt. Etwa 14 Stunden täglich beschäftigt er sich mit der Religion, liest, besucht andere Mormonen und versucht vor allem, fremde Menschen zu bekehren. Fernsehen, nicht-religiöse Bücher und Kontakt zu Familie und Freunden sind verboten. Er besitzt zehn weiße Hemden und vier Anzüge. 20.000 Mark kosten die zwei Jahre ihn und seine Eltern, die Kirche zahlt nichts. Aufgrund des Medienverbots verpasst Bandholdt fast den Fall der Berliner Mauer. Heimlich und mit schlechtem Gewissen kauft er sich doch eine Zeitung und klebt Ausschnitte in sein Tagebuch.

Der erste Sex, der erste Rausch

Als er von der Mission zurückkommt, ist er wieder komplett auf Mormonenlinie. Er wirft seiner Familie vor, unmoralisch zu sein, als sie den Film Pretty Woman ansieht. Er übernimmt zahlreiche Ämter in der Kirche, wird hoher Priester und Sonntagsschullehrer. Mit 24 heiratet er, hat das erste Mal Sex.

Nebenbei macht er Karriere in Münchner Medienunternehmen, mit 27 ist er Leiter eines IT-Fachverlags. In einem Internetforum findet er irgendwann zufällig eine Mormonengruppe. Als er bemerkt, dass einige Mitglieder sehr kritisch sind, fängt er an, intensiv zu recherchieren. Die alten Zweifel kommen wieder hoch.

Er erzählt davon, wie ihm bewusst wird, dass seine Gemeinde im Vergleich zur Erde winzig ist. Davon, dass ihm bewusst wird, wie viele andere Religionen es auf der Welt gibt. Er bekommt das Gefühl, dass mit seiner Kirche etwas nicht in Ordnung ist und der Erlösungsplan, an den er so lange Zeit so fest geglaubt hat, auch falsch sein könnte. Es ist eine Ahnung, die ihn nicht mehr loslässt.

Lars Bandholdt bestellt nun massenhaft Bücher, redet mit seiner Frau, die anfangs schockiert ist, dann aber seine Ansichten zunehmend teilt. Zwei Jahre beschäftigt er sich mit seinen Recherchen, sucht nach Belegen und Erklärungen für seine Vermutungen. Gleichzeitig ist er aktiv in der Kirche. Doch vor seinen Sonntagsklassen lässt er nun Dinge weg, an die er nicht mehr glaubt. Zum Beispiel, dass der Prophet ein guter Ehemann gewesen sein soll, obwohl er sehr viele Frauen hatte. Mit der Zeit erinnert ihn die Kirche an ein totalitäres System: "Es gab eine starke Zensur, Kritisches wurde als Werk Satans abgetan", sagt Bandholdt. Mit 30 hat Bandholdt genug davon: Seine Frau und er verlassen die Kirche. Einfach war es nicht. Die Eltern sind empört und enttäuscht.

Besonders die Tatsache, dass Kinder sich nicht frei für oder gegen den Glauben entscheiden können, kritisiert Bandholdt heute. Ab dem Alter von drei Jahren werden Kinder in die Aktivitäten eingebunden, durch Gebete, Schriftenstudium, Bischofsgespräche, Priestertum und andere regelmäßige religiöse Aktivitäten. In der Kindheit muss Bandholdt Lieder wie "Ich möchte einmal auf Mission gehen" oder "Den Zehnten zahlen möchte ich" auswendig lernen. "Dass eine Familie sich zurückzieht, wird in der Gemeinde nicht akzeptiert", sagt er. "Jede Familie erhält ständig Besuch von anderen Mormonen, die ihnen zugewiesen sind."

Zweifel im Internet

Nach seinem Ausstieg fällt der Medienmanager in ein Loch, plötzlich hat er nicht mehr auf alles eine Antwort. Dann hat er das Gefühl, Dinge nachholen zu müssen. Drei Jahre nach dem Austritt trennt er sich von seiner Frau. Er feiert, hat Affären, findet eine Freundin, die ihn auf Partys mitschleppt. Das erste Mal betrunken ist er im Alter von 30 Jahren. 2003 gründet er mit einem Geschäftspartner das Partymagazin Undercover. In der Nobeldisco P1 geht er auf Suche nach Mädchen für das Titelbild seines Magazins. Er träumt von einem Durchbruch als Verleger, aber nach 14 Ausgaben sind die beiden Unternehmer pleite. Er wird wieder Verlagsleiter und heiratet 2006 seine Frau zum zweiten Mal. Heute ist er deutscher Geschäftsführer einer internationalen Medienagentur.

Die Religion ist allerdings nach wie vor ein Thema in seinem Leben, mit seiner Frau redet er viel darüber. Seit Jahren ist er in einem Internetforum aktiv und hilft Mormonen, die zweifeln oder aussteigen wollen. Neben Informationen finden sich dort zahlreiche Geschichten von Aussteigern. Manche lesen sich wie die von Bandholdt.

Kürzlich hat er außerdem eine Gruppe bei Facebook gegründet. Dort können Mormonen mit Ausstiegsgedanken diskutieren. Bandholdt versucht nicht, sie zum Aussteigen zu bewegen. Er beantwortet Fragen, geht auf Beiträge und Kommentare ein und teilt seine Erfahrungen. Auch im Mormonenforum wird er kontaktiert. Im Internet ist die Hürde offenbar niedriger, es gibt unzählige solcher Foren weltweit.

"Ich bin nicht gegen die Kirche, sondern kläre auf", sagt er. Er schätzt die Kultur der Kirche trotzdem. Er hat Freunde, die noch Mormonen sind. An Weihnachten und bei Taufen geht er mit seiner Familie in die Kirche. Heute versteht er sich mit seinen Eltern wieder gut. "Am Anfang dachte meine Mutter, ich gehe nun den Weg Satans", sagt er. Kurz nach seinem Austritt bekam sie einen Schlaganfall. Für seinen Vater war es zunächst eine Katastrophe, dass sein Sohn einen anderen Weg einschlug. Heute verdrängt er es: "Jetzt reden wir über Business-Themen anstatt über die Religion", sagt Bandholdt.

An seinem langen Leidensweg sieht Bandholdt auch etwas Positives. Er habe dadurch zu schätzen gelernt, was es heißt, frei zu sein. Und er sagt: "Ich bin froh, dass mein Sohn diesen Druck nie haben wird, dass er das alles nicht durchmachen muss."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: