Süddeutsche Zeitung

Mord in München:Tagebuch eines Stalkingopfers

Roland B. stellte seiner Ex-Freundin sechs Jahre lang nach. Mehrmals zog sie deshalb um, erwirkte Kontaktverbote, notierte die Übergriffe - nun ist sie tot.

Von Martin Bernstein

Jedes Klingeln an der Tür, jede nur vermeintlich zufällige Begegnung mit ihrem Peiniger hat das Opfer notiert. Es ist ein Tagebuch des Schreckens. 36 Vorfälle hat die 45-jährige angestellte Architektin allein in den Wochen zwischen Mitte August und Anfang September vergangenen Jahres minutengenau dokumentiert. Was blieb ihr auch anderes übrig?

Der Kollege, den sie im Jahr 2007 in ihrer niedersächsischen Heimat kennengelernt und mit dem sie von Herbst 2008 an ein knappes Jahr zusammen gewesen war, war längst zum Albtraum für sie geworden. Ein Albtraum, dessen sich die Frau mit Hilfe von Polizei und Justiz erwehren musste.

Am Donnerstag sollte das Münchner Amtsgericht gegen den 45-jährigen Stalker Roland B. verhandeln - wegen Nachstellung und Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz. Die Verhandlung fiel aus. Am Dienstagnachmittag wurde die Frau im Hausflur vor ihrer Obergiesinger Wohnung erstochen. Dringend tatverdächtig: Roland B.

Sechs Jahre lang verfolgte Roland B. seine frühere Freundin. Fast möchte man sagen: auf Schritt und Tritt. Das ist eine lange, eine furchtbar lange Zeit. Ein, zwei Jahre dauern nach Expertenmeinung durchschnittliche Stalking-Attacken. Das Opfer tat alles, was bedrängte Frauen - und das sind rund 80 Prozent der Stalking-Opfer - tun können. Alles, was Beratungsstellen empfehlen. Sie machte ihrem Ex-Freund klar, dass sie keinen Kontakt mehr wollte.

Sie zog um, von Braunschweig nach Wolfratshausen, von Wolfratshausen nach München, dann zweimal innerhalb der Stadt. Roland B. ließ sich nicht abschütteln. Zwischendurch war zwei Jahre lang Pause, dann ging der Terror wieder los. Die 45-Jährige ging zuletzt möglichst nur noch in Begleitung einer Nachbarin aus dem Haus. Sie verteilte Zettel im Haus, bat die Mitbewohner, immer die Haustür geschlossen zu halten und Verdächtiges mitzuteilen.

Er durfte keinen Kontakt mehr zu ihr suchen

Sie suchte die Hilfe der Münchner Polizei, die den Architekten mehrmals belehrte. "Gefährderansprache" heißt das, wenn Beamte einen Stalker zu Hause besuchen, um ihm klarzumachen, dass sein Tun bekannt ist. Die Frau führte ein Stalking-Tagebuch. Sie ging vor Gericht, erwirkte mehrere Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz, im März 2014, dann wieder Ende August 2015.

937 Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz gingen im vergangenen Jahr beim Amtsgericht München ein. In mindestens einem Drittel der Fälle erließen Richter Kontakt- und Näherungsverbote oder wiesen Opfern häuslicher Gewalt die ehemalige gemeinsame Wohnung zu. In diesem Jahr waren es bis Ende Juli 560 Verfahren.

Auch hier wurde in mehr als einem Drittel der Fälle eine einstweilige Anordnung zum Schutz der mutmaßlichen Opfer getroffen. Anträge wurden laut Monika Andreß, Pressesprecherin des Amtsgerichts, in der Regel nur dann abgelehnt, wenn die Vorgänge zu weit zurück lagen. Das Gewaltschutzgesetz gebe aber keine Befugnis zur zwangsweisen Therapierung eines möglicherweise psychisch auffälligen Stalkers, stellt Andreß klar.

Das sei allenfalls nach dem Bayerischen Unterbringungsgesetz möglich. Eine Statistik dazu, wie viele Stalker in der Psychiatrie untergebracht werden, gibt es nicht. Die meisten Täter jedoch, darauf weisen Opfervertreter hin, sind nicht psychisch krank. Wenn sie sich nicht an die Auflagen halten, drohen ihnen - allerdings nur auf erneuten Antrag der Betroffenen - Zwangsgeld und Zwangshaft. Zudem machen sie sich strafbar. Roland B. hielt sich manchmal an die strafbewehrten Anordnungen, dann wieder nicht.

Zwölfmal klingelte Roland B. am 20. August vor einem Jahr an der Tür der Frau. Zwölfmal in 56 Minuten. Vielleicht stand er auch die ganze Nacht da und klingelte. Aber um 22.14 Uhr schaltete sie die Klingel aus. Sieben Tage später erwirkte die Frau eine einstweilige Anordnung des Amtsgerichts. Keine Anrufe mehr, kein Klingeln, keine Annäherung auf weniger als hundert Meter: Das verfügte das Amtsgericht München am 27. August. Roland B. hielt sich daran - ganze elf Tage lang.

Dann ging der Terror von Neuem los, am Arbeitsplatz, zu Hause, auf dem Weg zur U-Bahn, beim Einkaufen. Das Gefühl der Opfer beschreibt Kriminalhauptkommissar Siegfried Zens vom Opferschutzkommissariat 105 des Polizeipräsidiums München so: "Jemand frisst sich in mein Leben herein und ergreift Besitz von mir."

Anrufe im Büro, siebenmal in neun Minuten

Roland B. fraß sich in das Leben der Frau, die nur eines wollte: ihre Ruhe vor ihm haben und leben dürfen wie andere Menschen. Kein einziges Mal stieß B. dabei Drohungen aus, nie wurde er gewalttätig. Nicht im körperlichen Sinn. Doch welche psychische Gewalt tut man jemandem an, dem man am Morgen auf dem Weg zur Arbeit beobachtet und den man am selben Tag siebenmal binnen neun Minuten im Büro anruft?

Die Münchner Staatsanwaltschaft sah ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass Roland B. vor Gericht kommt. Im Falle einer Verurteilung hätte ihm eine Geldstrafe gedroht, vielleicht auch - er war ja Wiederholungstäter - eine Freiheitsstrafe. Die kann maximal drei Jahre dauern. Roland B. wäre vermutlich mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Hätte er sich dadurch von weiteren Nachstellungen abhalten lassen?

Fünf bis sechs Hilfesuchende rufen im Durchschnitt pro Woche bei Siegfried Zens und seinen Kollegen an, weil sie Angst vor einem Stalker haben. "Wenn der Tatbestand erfüllt ist", so Zens, "raten wir immer zur Strafanzeige." In persönlichen Gesprächen zeigen die Experten den Opfern auf, welche Möglichkeiten es gibt.

Auch das Giesinger Opfer ließ sich ausführlich beraten, zuletzt vor wenigen Wochen. 134 Stalking-Fälle hat das Polizeipräsidium München im Jahr 2015 registriert, 51 Fälle weniger als im Jahr zuvor. Seit Einführung des Paragrafen 238 im Strafgesetzbuch, der die Nachstellung ahndet, im März 2007 sei ein "massiver Deliktsrückgang" zu verzeichnen, heißt es in der Kriminalitätsstatistik für München.

Tipps der Polizei

Dem Stalker einmal unmissverständlich mitteilen, dass man keinerlei Kontakt möchte, und jeden weiteren Kontaktversuch ignorieren. Sich auf keine "letzte Aussprache" einlassen.

Umgehend Kontakt zur Beratungsstelle der Polizei aufnehmen.

Das persönliche Umfeld wie Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitsstelle informieren.

Ein Stalkingtagebuch führen: Was ist wann passiert? Waren Zeugen dabei?

E-Mail-Account und Telefonnummer ändern.

Persönliche Unterlagen nicht in den Hausmüll werfen.

Ein gerichtliches Kontakt- und Näherungsverbot beantragen.

Bei akuter Bedrohung direkt die Polizei über Notruf 110 alarmieren. bm

Belästigung oder Bedrohung reicht nicht aus

Die Tendenz gibt es bundesweit. Wirklich ein Rückgang der Delikte - oder lediglich ein Rückgang der angezeigten Delikte? Weil Betroffene das Gefühl haben, dass das Gesetz sie nicht wirklich schützen kann, wie Kritiker vermuten? Die wenigen Beratungsstellen haben nach ihrem Dafürhalten eher mit mehr Fällen zu tun. Statistiken zeigten, dass zwar die meisten Stalker ermittelt würden, dass aber nur ein geringer Prozentsatz der angezeigten Tatverdächtigen angeklagt und verurteilt werde, so die Garmischerin Christine Doering, die als Nachstellungsopfer die Internetplattform "Stalking & Justiz" betreibt.

Bisher ist die verbotene Nachstellung ein sogenanntes "Erfolgsdelikt": Es genügt nicht, wenn das Opfer die Taten als Belästigung oder Bedrohung empfindet - das Opfer muss aus Angst vor dem Stalker sein Leben tatsächlich "schwerwiegend" ändern, also sich eine neue Wohnung suchen, den Arbeitsplatz wechseln, das Haus nur noch in Begleitung verlassen. All das hat die Frau gemacht. Dem Buchstaben des Gesetzes hat sie damit Genüge getan.

Geholfen gegen die Nachstellungen Roland B.s hat es ihr nicht. Das Gesetz soll jetzt geändert werden: Dann genügt es bereits, wenn die Taten das Leben des Opfers schwerwiegend beeinträchtigen könnten. Justizminister Heiko Maas Mitte Juli bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs: "Nicht das Opfer soll sein Verhalten ändern müssen, sondern der Täter."

Die Frau hat ihr Verhalten geändert, wieder und wieder. Doch zwei Tage vor dem Prozess gegen ihren Peiniger ist sie mit einem 25 Zentimeter langen Messer erstochen worden. Tödliche Gewalt im Zusammenhang mit Stalking ist selten. Eine Risikoanalyse der Technischen Universität Darmstadt hat ergeben, wann die Gefahr besonders hoch ist: Wenn der Stalker keine Vorstrafen hat und sozial gut integriert ist. Und wenn er immer wieder zur Wohnung seines Opfers kommt. Die Fahndung nach Roland B. dauert an.

Erste Anlaufstelle für Stalking-Opfer ist das Kommissariat 105 für Prävention und Opferschutz. Die Experten erreicht man von Montag bis Freitag, von 8 bis 11 und (außer freitags) von 13 bis 15 Uhr unter der Durchwahl 089/2910-4444. Weiterführende Hilfen bieten unter anderem der "Weiße Ring" und die Stalking-Selbsthilfegruppe des Vereins "Frauen helfen Frauen", an der neben dem Starnberger Landratsamt auch Christine Doering beteiligt ist (Telefon: 0176/97 88 90 49).

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Quelle:
SZ vom 20.08.2016/jey
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