Süddeutsche Zeitung

Mord-Anklage gegen 28-Jährige:Eine Bluttat ohne Motiv

Eine ehemalige Balletttänzerin steht wegen Mordes vor Gericht. Die 28-Jährige soll ihren 16-jährigen Freund erstochen haben. Möglicherweise leidet sie an einer schweren Persönlichkeitsstörung.

Alexander Krug

Sie spricht leise und in abgehackten Sätzen, der Richter muss ihr jedes Wort entlocken. Dazu scheint sie immer wieder die Kontrolle über ihre Gesichtszüge zu verlieren, mal zieht sie die Augenbrauen hoch, mal blickt sie verängstigt und scheu, mitunter aber reagiert sie auch gereizt und wird laut.

Anne M. vermittelt den Eindruck eines schwer gestörten Menschen, und das scheint sie nach den vorläufigen Expertisen der vom Gericht geladenen Nervenärzte auch zu sein. Die Gutachter spielen eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle in dem Prozess, der seit Montag am Schwurgericht verhandelt wird. Anne M. ist angeklagt wegen Mordes. Sie hat ihren 16-jährigen Liebhaber erstochen, ein Motiv der Bluttat ist nicht erkennbar.

Anne M. ist 28 Jahre alt. Aufgewachsen ist sie bei Adoptiveltern, ihren leiblichen Vater kennt sie nicht, ihre Mutter hat sie nur einmal im Leben getroffen. Mit 14 Jahren fängt sie an, Ballett zu tanzen. Ihr Talent scheint enorm, bald schon wird sie von der renommierten Heinz-Bosl-Stiftung aufgenommen.

Doch der Traum von der Karriere als Tänzerin zerplatzt, weil die schulischen Leistungen immer schlechter werden. Anne M. entscheidet sich für die Schule - und gegen die Fortsetzung der Ballett-Ausbildung.

Vielleicht ein falscher Schritt, denn nach der Mittleren Reife gerät ihr Leben aus der Bahn. Zunächst jagt ein Praktikum das andere, dann eine Lehre die nächste, privat geht es ebenso turbulent zu.

Anne M. stolpert von einer Beziehung in die nächste, wird schwanger, lässt mehrmals abtreiben und findet nie Halt bei ihren Partnern. Mit 16 Jahren sei sie einmal von einem 60-Jährigen verführt worden, teilt sie unter Tränen mit. "Ich hab' ihm vertraut."

Auch andere hätten sie "missbraucht", sagt sie, verweigert aber dazu weitere Angaben. Viel ist ihr auch nicht zu entlocken zu angeblichen Selbstmordversuchen. Als Kind habe sie einmal Tabletten genommen, später sei sie mal "auf der Straße zusammengebrochen".

Auf Nachfragen der Richter reagiert sie einsilbig oder mit einem Schulterzucken. "Das weiß ich nicht mehr", ist ein Satz, den sie oft sagt. Zweimal will sie überfallen worden sein, doch auch dazu gibt sie wenig preis.

Zum Leben von Anne M. gehören wilde Partys und viel Alkohol. "Zwei Flaschen Wein" an solchen Abenden sind nichts Außergewöhnliches. Anne M. lebt von Sozialhilfe und zieht mit ihrem im November 2005 geborenen Sohn in eine Sozialwohnung in die Siedlung Am Hart. Dort gefällt es ihr überhaupt nicht, herumlungernde Jugendgruppen machen ihr Angst.

Dass sie ausgerechnet solche Jugendliche auf der Straße anspricht, zu sich in die Wohnung einlädt und mit einem sogar eine Beziehung anfängt, gehört zu den vielen rätselhaften Facetten der Persönlichkeit der Angeklagten. Ihr neuer Freund ist 16 Jahre alt und der Polizei als sogenannter Intensivstraftäter bekannt. Die Jungen gehen bei Anne M. ein und aus, es wird gefeiert und getrunken.

Alkohol gibt es auch am 1. Februar dieses Jahres, doch diesmal schlägt die Stimmung um. Der Anklage zufolge verdächtigt Anne M. ihre Besucher, ihre EC-Karte und ihren Geldbeutel gestohlen zu haben. Wortlos soll sie dann aus der Küche zwei Messer geholt und damit zugestochen haben.

Ein Stich traf den 16-Jährigen im Brustkorb. Das Messer drang bis zum Herzbeutel ein, der Jugendliche verblutete innerhalb kürzester Zeit. Anne M. kann die Tat selbst nicht fassen. "Ich hab' ihn doch lieb gehabt", sagt sie aufgewühlt und bricht in Tränen aus.

An die Attacke selbst will sie keine Erinnerung mehr haben, "ich weiß nicht, was da passiert ist". Ihr Bewusstsein setze erst dann wieder ein, als "ich an der Tür stand und mich alle anstarrten".

Nach vorläufigen Gutachten leidet Anne M. an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das Gericht wird darüber befinden müssen, ob sie ins Gefängnis oder in eine Nervenklinik muss. Ihr kleiner Sohn lebt heute bei der Großmutter.

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Quelle:
SZ vom 6. November 2007
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