Jeden Sonntag füllt sich die Golgathakirche an der Kristallstraße 8. Dutzende Georgier aus ganz München und der Umgebung kommen dort zusammen und feiern die Heilige Messe. Was von außen wie ein verschlafenes Einfamilienhaus mit großem Garten aussieht, ist ein georgisch-orthodoxes Gotteshaus. Das einzige in ganz Süddeutschland. Erzpriester Tamaz Lomidze feiert dort mit seiner Gemeinde bereits seit 13 Jahren Gottesdienste. Doch dieses Osterfest, das die orthodoxen Kirchen am kommenden Sonntag feiern, wird für die Georgier in der Siedlung Ludwigsfeld voraussichtlich das letzte sein, denn im Sommer müssen sie sich ein neues Domizil suchen.
Das Haus befindet sich auf einem Grundstück, auf dem die Stadt in den nächsten Jahren viele neue Wohnungen bauen könnte. Bauland ist wertvoll, und die Stadt platzt aus allen Nähten, da ist für die Golgathakirche kein Platz mehr. Bisher gehören das Gebäude und das Grundstück nicht der Stadt, sondern der evangelischen Landeskirche. Sie hatte die Kirche 1967 geweiht, damit die Ludwigsfelder Lutheraner nicht nach Feldmoching pendeln mussten. Der Name wurde mit Bedacht gewählt: "Golgatha", die Schädelstätte, der biblische Hügel vor Jerusalem, auf dem Jesus gekreuzigt worden war. Eine Schädelstätte ist auch die Siedlung Ludwigsfeld, errichtet nach dem Krieg auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers Allach.

Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich die Zahl der Lutheraner aber so verringert, dass der letzte evangelische Gottesdienst an der Kristallstraße 2006 stattfand. Hätte die Landeskirche in dem Haus nicht die junge georgisch-orthodoxe Gemeinde aufgenommen, wäre es vermutlich verwaist.
"Wir haben es dankbar angenommen", erinnert sich Tamaz Lomidze. Damals hatte er gerade sein Studium der orthodoxen Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgeschlossen, für das er 2001 aus der Schwarzmeer-Stadt Tiflis nach Deutschland gekommen war. Heute ist er Erzpriester der gut 350-köpfigen Gemeinde und kümmert sich um die gläubigen Georgier aus ganz Süddeutschland. Jeden Samstag ist er unterwegs und fährt im Wechsel nach Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt und Innsbruck. Abends kommt er wieder zurück nach Ludwigsfeld und bereitet den sonntäglichen Gottesdienst in München vor.
"Wir sind eine sehr junge Gemeinde", erzählt der 48-jährige Priester. Wie er selbst sind viele Georgier Anfang der Zweitausenderjahre nach Deutschland gekommen, um der miserablen Wirtschaftslage in ihrer Heimat zu entfliehen. Bis heute kommen Einwanderer von dort, viele von ihnen sind Studenten. Damit hat die Gemeinde eine völlig andere Geschichte als die russisch-orthodoxe und die ukrainisch-orthodoxe Kirche, die sich ganz in der Nähe befinden. Letztere sind für die vielen ehemaligen Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet worden, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der bayerischen Landeshauptstadt geblieben waren. Die meisten Georgier hingegen sind noch keine 20 Jahre hier. Trotzdem finden die Gottesdienste in der Golgathakirche nicht nur auf Georgisch, sondern auch auf Deutsch statt. "Wir haben mittlerweile auch viele deutsche orthodoxe Christen unter uns", sagt Erzpriester Lomidze. Es sind meist die Ehepartner vieler Einwanderer und ihre Kinder.

Für die Kinder steht eigens ein Gartenhäuschen hinter der Kirche, gebaut von der Gemeinde als Sonntagsschule und Treffpunkt für regelmäßige theologische Gesprächsrunden. Auch das Gartenhäuschen wird zurückbleiben, wenn Lomidze Ende August die Schlüssel abgibt. Schon vergangenen Sommer hat er die Kündigung erhalten. Seither sucht die Gemeinde nach einer neuen Bleibe. Glück hatten sie bisher noch nicht, auch nicht bei anderen Kirchen. "Es ist schwierig, und uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich weiß nicht, was wir machen werden", sagt Lomidze.
Das Gotteshaus und den großen Garten konnten die Georgier bisher für eine symbolische Miete von einem Euro nutzen. Eine evangelische Unterstützung für die orthodoxen Glaubensbrüder. Eine Art theologische Zwischennutzung, die dieses Jahr zu Ende geht. Schon 2007 habe die evangelische Kirche erste Gespräche mit dem Referat für Stadtplanung geführt, berichtet die Stadtdekanin Barbara Kittelberger. Für den Bau von günstigen Wohnungen habe das Referat Interesse an dem Grundstück angemeldet. "Wir haben schon damals der Stadt signalisiert, dass wir es gerne dafür hergeben", sagt sie. Man wolle mithelfen, günstigen Wohnraum zu schaffen.

Der evangelischen Kirche gehört auch das Grundstück, auf dem sich der benachbarte Autohandel zwischen Kirche und Dachauer Straße befindet. Zurzeit gebe es zwar noch keine konkreten Gespräche, doch das Grundstück sei Teil einer möglichen Stadtentwicklung. "Es ist gut, wenn wir ab Sommer freie Hand haben", sagt Kittelberger. Die georgische Gemeinde könne das Kirchenhaus sogar mitnehmen, wenn es eine geeignete Fläche findet.
Ob das (nicht bloß bautechnisch) ohne weiteres möglich ist, wird sich noch zeigen. Denn das Landesamt für Denkmalpflege untersucht gerade, ob die Golgathakirche in die Denkmalliste aufgenommen wird. Die Kirche hat ursprünglich der Architekt Otto Bartning entworfen. Welche Auswirkungen das auf ihre mögliche Versetzung hat, dazu wollten die Denkmalschützer noch nichts sagen. Auch das Planungsreferat will sich über "interne Überlegungen bezüglich möglicher Planungen" nicht äußern. Dementiert hat es sie jedenfalls nicht. Sicher ist, dass die Georgier vom Sommer an eine neue Kirche suchen.