Süddeutsche Zeitung

Moderne Medizin in München:Bye-bye, Bohrer!

Lesezeit: 3 min

Von Melanie Staudinger

Wenn nur noch Spritze und Bohrer helfen, ist es zu spät. Karies hat sich bereits im Zahn gebildet, das Loch ist sichtbar und muss gefüllt werden. In diesen Momenten ärgert sich der Patient meist: Wäre er nur eher mal zum Zahnarzt gegangen und nicht erst, als die Schmerzen schon unerträglich wurden. Dazu kommt die Gewissheit, dass die Behandlung nur ein paar Jahre halten wird - dann geht das Spiel von vorne los: Schmerzen, Spritze, Bohren, Füllung. Irgendwann ist der Nerv so angegriffen, dass eine Wurzelbehandlung ansteht.

Seit wann die Methode auf dem Markt ist

Nun aber gibt es Alternativen, zumindest für jene, die regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Seit mittlerweile sechs Jahren ist eine neue Methode auf dem Markt, die Karies im Frühstadium bekämpft, ohne invasiven Eingriff: die Karies-Infiltration. Sie kommt zum Einsatz, wenn nur der Zahnschmelz angegriffen ist. Dies ist auf Röntgenbildern zu erkennen, wie Zahnmediziner Jan Kühnisch von der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der Ludwig-Maximilians-Universität erklärt.

Wie sie funktioniert

Steht die Diagnose fest, dehnt Kühnisch mit einem Keil den Raum zwischen den Zähnen. Danach trägt er für zwei Minuten eine Säure auf, die den oberflächlichen Zahnschmelz abträgt und die Karies freilegt. Alkohol zieht anschließend das Wasser aus den befallenen Stellen, so dass diese entleert werden. Jetzt kommt der sogenannte Infiltrant ins Spiel, ein flüssiger Kunststoff. Er füllt den Zahnschmelz wieder auf, ganz schmerzfrei, wie Kühnisch verspricht.

"Gerade für Menschen zwischen zwölf und 50 ist die Infiltration eine gute Option", sagt der Mediziner. "Je später man mit Füllungen anfängt, desto länger lässt sich ein Zahn erhalten." Nach ersten Studien liegt die Erfolgsquote der Behandlung bei 75 bis 80 Prozent. Selbst wenn eine Füllung nur hinausgezögert würde, habe der Patient schon gewonnen, sagt Kühnisch. Wer allerdings schon eine Zahnfüllung hat, wird davon nicht mehr profitieren können: Ein angebohrter Zahn taugt nicht mehr zur Infiltration.

Für Kinder und Jugendliche ist die Infiltration ebenfalls geeignet, auch wenn heute viel weniger von ihnen an Karies leiden als früher. Bei den Kleinkindern ist die Zahl seit 1994 um 35 Prozent zurückgegangen; bei den Zwölfjährigen mit ihrem bleibenden Gebiss sogar um 70 Prozent. Ein zwölfjähriges Kind in Deutschland hat heute im Schnitt 0,7 Zähne mit Karies. Vor 30 Jahren war es noch das Zehnfache. Dass Zähne heute generell gesünder sind, liegt zum einen daran, dass Prävention und Aufklärung in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich intensiver geworden sind.

Eltern kommen regelmäßiger mit ihren Kindern zu Vorsorgeuntersuchungen. Zum anderen haben sich die Pflegeprodukte verbessert. Zahnpasta und Mundspüllösungen enthalten Fluorid: Natriumfluorid, Aminfluorid und Zinnfluorid können vor Karies schützen. "Die Familien haben verstanden, dass regelmäßige Zahnpflege günstiger ist als eine Behandlung, wenn die Zähne angegriffen sind. Prävention wird heute gelebt", sagt Kühnisch.

Doch alle Probleme sind damit natürlich nicht gelöst: Gerade Kleinkinder kommen laut Experten oft zu spät zum Zahnarzt, ihre Milchzähne sind dann nicht mehr zu retten. Karies gelte als häufigste chronische Erkrankung bei Kindern im Vorschulalter, sagt Wolfgang Eßer, Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). Vor allem die sogenannte frühkindliche Karies - oft auch als Nuckelflaschen-Karies bezeichnet - ist ein Problem.

Als Hauptursache gilt, dass Kinder zu oft Säfte, Schorlen und andere gesüßte Getränke zu sich nehmen. Tränken sie ausschließlich Wasser, wäre Karies recht einfach zu vermeiden. Deshalb müssten Vorsorge und Therapie bei kleinen Kindern wesentlich verbessert werden, fordert die KZBV. Sie will erreichen, dass die Vorsorgeuntersuchungen gesetzlich verankert werden, um Karies früher zu erkennen.

Wann die Infiltration nicht mehr hilft

Kühnisch stellt in seiner alltäglichen Arbeit immer wieder fest, dass Zahngesundheit stark von der gesellschaftlichen Schicht abhängt, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen. Während Kinder aus bildungsnahen Familien selten an Karies leiden, tritt die Krankheit bei Gleichaltrigen aus bildungsfernen Elternhäusern häufiger auf. "Die Schere geht gefühlt immer weiter auseinander", sagt Kühnisch.

Karies werde zunehmend zu einem sozialen Problem. Ungesündere Ernährung sei dabei ebenso ein Faktor wie die Tatsache, dass arme Eltern mit ihren Kindern zu spät zum Zahnarzt gingen. "Da kommen sechs oder sieben kariöse Zähne auf einmal zusammen", sagt Kühnisch. Dabei zeigt er in seinem Büro in der Goethestraße Bilder eines Sechsjährigen, dessen Milchzähne braun verfärbt und teilweise schon löchrig sind.

In solchen Fällen hilft die Infiltration nicht. Nicht mehr. Sie kann aber Menschen, die Angst vor dem Zahnarzt und vor allem vor dem Bohrer haben, motivieren, doch häufiger eine Praxis aufzusuchen. Allerdings muss der potenzielle Patient derzeit noch ein wenig suchen, bis er in München einen Mediziner findet, der die Technik auch anbietet. Der Kunststoff wird aktuell nur von wenigen Zahnärzten eingesetzt; seit Generationen haben sie schließlich nur beigebracht bekommen, bei Karies den Bohrer in die Hand zu nehmen. Zudem muss der Patient die Infiltrationsbehandlung selbst bezahlen. Die Gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten bisher nicht - die immerhin zwischen 80 und 150 Euro pro Zahn liegen.

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SZ vom 21.03.2015
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