Süddeutsche Zeitung

Mobbing am Arbeitsplatz:Verfolgt bis in den Schlaf

Die "Mobbing Beratung München" hilft Menschen, die am Arbeitsplatz täglicher Schikane ausgesetzt sind. Einige von ihnen werden dadurch schwer krank und leiden unter Panikattacken.

Von Linus Freymark

Die Angst kommt nachts. Susanne Reisinger liegt dann im Bett, mit Schweißausbrüchen, Herzrasen. An Schlaf ist nicht zu denken, zu groß ist die Unruhe in ihr. Zu Uhrzeiten, an denen die meisten Berufstätigen schlafen, ist Susanne Reisinger mit dem Kopf im Büro, sieht sich in Besprechungen sitzen, in denen die Chefin, früher fast so etwas wie eine Freundin, plötzlich auf sie einbrüllt. Sie sieht die betretenen Gesichter der Kollegen, die nicht wissen, wo sie hinschauen sollen. Und sie sieht sich selbst: Eine eigentlich selbstbewusste Frau um die 50, die nicht weiß, wie ihr geschieht.

Susanne Reisinger, pinke Bluse, die Sonnenbrille lässig in den Haaren, hat etliche solcher Situationen erlebt. Trotz ihres selbstsicheren Auftretens, trotz ihres ehemals guten Stands in der Firma könnte sie stundenlang in dem Café zwischen Viktualienmarkt und Gärtnerplatz vor ihrem Cappuccino sitzen und Geschichten erzählen, die sie bis in den Schlaf hinein verfolgen.

Aber Reisinger ist vorsichtig. Verrät sie zu viele Details, könnte ihr Arbeitgeber sie wiedererkennen. Deshalb möchte sie ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen und sich auch nicht fotografieren lassen. Reden aber möchte sie über das Mobbing am Arbeitsplatz, das sie, so erzählt sie es, seit einem halben Jahr erleiden muss und das so schwer greifbar ist, weil es aus so vielen kleinen, unterschiedlichen Gemeinheiten besteht. Mal ein Spruch hier, mal eine Bemerkung da. Kleine Attacken, die zusammen das Potenzial haben, einem Menschen weh zu tun.

5,5 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland sind nach Zahlen der "Mobbing Beratung München" von "schikanösen Handlungen über einen längeren Zeitraum" betroffen. So definiert Ludwig Gunkel, der Leiter der Beratungsstelle, den Begriff. 5,5 Prozent - in absoluten Zahlen sind das fast 2,5 Millionen Arbeitnehmer. Beim Mobbingtelefon von Gunkel und seinem Kollegen Otto Berg rufen jährlich mehr als 1000 Menschen an. Trotzdem hat die Mobbingberatung kein eigenes Büro, wie bei so vielen ehrenamtlichen Initiativen ist das Geld knapp. Gunkel, ein fröhlicher Mann, versucht deshalb seit diesem Dienstag, durch die Gründung eines Förderkreises Spenden zu akquirieren.

Die häufigste Ursache für Mobbing sind laut Gunkel Unstimmigkeiten unter Kollegen, die nicht offen ausgetragen werden. Vielmehr geht das Team dazu über, die Probleme auf einen Schuldigen abzuladen. "Unregulierte Konflikte", nennt der Psychologe Gunkel das. Bei Susanne Reisinger begannen diese Konflikte mit der Einstellung einer neuen Kollegin. Hierarchisch ist die Neue auf einer Ebene mit Reisinger, eine leitende Position unterhalb der Geschäftsführung. Trotzdem habe die Kollegin begonnen, ihr Kompetenzen abzunehmen, erzählt Reisinger. Termine, für die sie zuständig ist, seien ohne Absprache von der Kollegin übernommen worden. Sie habe Vorstellungsgespräche in Reisingers Zuständigkeitsbereich geführt und Personalentscheidungen getroffen.

"Protokolliert man seine Erlebnisse, erhöht das die Glaubwürdigkeit"

Ludwig Gunkel kennt solche Geschichten. Mobbing läuft subtil ab und es entsteht oft, wenn sich Abteilungen personell verändern. Theoretisch kann es jeder abbekommen. Doch egal, wen es trifft, fast alle Betroffenen haben dasselbe Problem: Sie wissen nicht, wie sie die vielen kleinen Bösartigkeiten beweisen, dagegen vorgehen sollen. Gunkel empfiehlt dann, ein Mobbingtagebuch zu führen. "Protokolliert man seine Erlebnisse, erhöht das die Glaubwürdigkeit", sagt er.

Das Subtile an den Vorgängen macht es auch für Susanne Reisinger schwer, ihre Kollegin oder die gemeinsame Chefin auf die Situation anzusprechen. Bei einer Ohrfeige oder einer Abmahnung passiert etwas Nachweisbares. Aber das, was Reisinger passiert, ist nichts Konkretes. "Alles ist total unterschwellig gelaufen", sagt sie. Die neue Kollegin geht noch weiter, sie will die internen Strukturen des Betriebs verändern. Bei der Chefin stößt sie damit auf offene Ohren. Ab diesem Zeitpunkt verschlechtert sich Reisingers ehemals gutes Verhältnis zu ihr rapide. Die Chefin schlägt sich auf die Seite der Neuen. Reisinger versteht bis heute nicht, warum.

Im Zuge der Umstrukturierung soll Reisinger in ein anderes Büro ziehen. Wieder informiert sie niemand, wieder wird sie ausgebootet. Gleichzeitig merkt sie, wie sich die Stimmung unter den Kollegen gegen sie wendet. Mehrmals versucht sie, mit ihrer Chefin über die Schikanen zu sprechen. Jedes Mal wird sie abgeblockt. Fragt sie die neue Kollegin, warum sie sich so unfair verhält, heißt es: Unfair? Es ist doch nichts! Die Machtlosigkeit zehrt an Reisinger. Sie gibt es auf, sich zu wehren.

Mobbing macht krank, sagt Ludwig Gunkel. Das Selbstbewusstsein schwindet, Ängste kommen, können sich zu Depressionen auswachsen. Das Immunsystem wird schwächer, es folgen Erkältungen, Schlafstörungen. "Die Psyche schlägt sich auf den Körper nieder", erklärt Gunkel, "kaum jemand geht unbeschadet aus einer Mobbingphase heraus." Susanne Reisinger fängt an, die Schuld bei sich zu suchen. Sie schiebt Überstunden, will alles perfekt machen. Die Selbstzweifel bestimmen den Alltag im Büro. "Ich habe mich so geschämt", sagt sie. Dann kommen die Schlafstörungen. Mehrere Wochen geht das so, bis ihr klar wird: Alleine schaffe ich es nicht. Sie ruft die Mobbingberatung an. Im Rückblick sagt sie: "Wahrscheinlich hätte ich das früher tun sollen."

Der Kollege von Ludwig Gunkel, der Reisinger nun betreut, hat ihr geraten, sich erst einmal aus der Schusslinie zu bringen. Seitdem ist sie krankgeschrieben. Reisinger soll nun in einem ersten Schritt ihre "innere Stabilität", wie sie sagt, ihr Selbstvertrauen wiederfinden. Dann wollen sie und der Anwalt überlegen, wie es weitergeht. Zurück in ihre Firma möchte Susanne Reisinger nicht.

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SZ vom 16.10.2018/smb
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