Mitten in Waldtrudering:Allzweckwaffe aus Faserstoff

Wie konnte man bisher ohne dieses universelle Helden-Accessoire durchs Leben kommen: die Küchenrolle?

Glosse von Katrin Kurz

Der erste Verdacht entsteht beim zufälligen Blick in die Altpapierkiste hinterm Haus, in der sich plötzlich auffällig viele, blass-braune Kartonrollen zusammenfalten. Rekonstruiert man, was auf diesen Überbleibseln einmal aufgerollt war, stößt man im neuen, noch unerforschten Gemeinschaftshaushalt schnell auf unleugbare Spuren: weiße Zellulose-Blätter. Überall. Gefaltet, gerollt, geknüllt. Jedes davon exakt 26 mal 22 Zentimeter groß, leicht gerippt.

Neuerdings gibt es also Mitmenschen im eigenen näheren Wohnumfeld, für die eine schlichte supermarktkonforme Küchenrolle ein universeller Helden-Werkzeugkoffer ist. Die sichtlich nervös werden, wenn im Küchenschrank nur noch acht Rollen auf Vorrat gestapelt liegen. Denn dann müssen sie langsam in den Keller gehen, um eine der noch versiegelten, wie Goldbarren geschichteten weiteren zehn Reservepackungen zu öffnen. Hamsterkäufe werden natürlich leidenschaftlich abgestritten, mit Klopapier oder Nudeln habe dieser Multifunktions-Hightech-Faserstoff am allerwenigsten gemeinsam. Erstere dienen schließlich nur ihrem einzigen trivialen Zweck - wohingegen in einer Küchenrolle so viel mehr steckt als ein simples "Wisch und Weg".

Hat man sich selbst bis dato völlig naiv mit genau diesem profanen Einsatzzweck begnügt und war sich sicher, damit ganz gut durchs Leben zu kommen, schleicht sich nun zunehmend das Gefühl ein, sämtliche Hürden, Unfälle, Missgeschicke oder Alltagspannen wären so viel leichter zu meistern gewesen - hätte man bloß eher die wahren Fähigkeiten und die Vielfalt an Gebrauchsmöglichkeiten dieser weit unterschätzten 570 Quadratzentimeter Faserpapier erkannt: als Serviette, Pflaster, Untersetzer, Sieb, Fensterpoliertuch oder Feinjustierwerkzeug für wackelige Tische, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Man könne, ist zu hören, sogar eine Espressomaschine so geschickt mit dem Papier einwickeln, dass dank dieser Christo-Verpackung trotz intensiver Nutzung keinerlei Reinigung nötig sei. Vereinzelt lässt sich beobachten, dass die Blätter dazu verwendet werden, Gegenstände auf der Küchenplatte abzulegen. Damit es eine geputzte Glocke einfach ein Stückchen bequemer hat. Oder sie dienen als eine Art Zudecke im Mülleimer. Damit der Abfall darunter nicht so sehr ins Auge sticht.

Die höchste Bestimmung allerdings, sozusagen das Küchenrollen-Nirwana, entfaltete das Stückchen Papier als Nothelfer offiziell dokumentiert bereits vor vier Jahren: Als Hurrikan Maria über die Insel Puerto Rico fegte, reiste Donald Trump ins Krisengebiet. Nicht mit besonders viel Taktgefühl, dafür mit reichlich Küchenrollen im Gepäck, die er in die Menge warf. Unverständlich also, warum zu Corona-Krisenzeiten Klopapier und Nudeln gehortet wurden. Denn in Wahrheit lässt sich nur mit einer Küchenrolle überleben.

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