Süddeutsche Zeitung

Mitten in Schwabing:Unverwüstlich statt modern

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"War ein braves Kasterl!", lobt der Mann von den Stadtwerken, als er einen prähistorischen Stromzählerkasten gegen einen modernen, langweiligen und unter Garantie weniger langlebigen austauscht

Glosse von Nicole Graner

Neu ist nicht automatisch besser. Manche Geräte aus der technischen Steinzeit zum Beispiel: Zwar konnte man mit dem berühmten Nokia 3210, das 1999 auf den Markt kam, keine Fotos machen und hatte keinen anderen Schnickschnack zur Verfügung, aber die Handys hielten und hielten. Oder alte Kolbenpumpen. Diejenige, die der Opa für die Wasserversorgung in einer kleinen Hütte im Bayerischen Wald in den Siebzigerjahren eingebaut hat, tut's noch immer. Sie tackert vor sich hin, vielleicht ein bisschen lauter als früher. Ja, einen Keilriemen hat sie mal gebraucht. Und einen so genannten Schnüffler, der als Ventil die Luftmenge reguliert, die die Pumpe ansaugt. Oder einen Luftwart, der den Wassertank entlüftet. Belüftung und Entlüftung sozusagen machten manchmal Zicken. Aber der Motor: unverwüstlich.

Kürzlich war es an der Zeit, das meinten zumindest die Stadtwerke, den alten Stromzähler auszuwechseln. Ein Mann kommt also am sehr frühen Morgen. Vom Tölzer Land in die große Stadt. In roter Arbeitshose und einer wirklich praktischen, biegsamen Lampe. Er öffnet den Sicherungsschrank und staunt nicht schlecht: "Ja, mei!", sagt er, "der alte Siemens." Weil der rostbraune Kasten gut verschraubt ist, macht er sich an die Arbeit. Fast ehrfurchtsvoll. Schraube für Schraube. Legt den Stromzähler vorsichtig auf den Boden. "Die waren unverwüstlich", sagt der Mann mit der wunderbar oberbayerischen Sprachfärbung. "Die neuen, die halten vielleicht zehn Jahre!"

Hinein kommt nun ein langweiliges hellgraues Ensemble. Auf das große Kästchen wird ein kleines gesteckt. Es blinkt. Natürlich erscheinen die Zahlen nun digital. Was mit dem alten Kasten geschieht, dessen Rädchen sich viele Jahre munter gedreht haben? Mit leisem Schnurren? Weggeworfen wird es, antwortet der Mann. Es klingt wehmütig. "War ein braves Kasterl!". Sagt es, packt es in sein Köfferchen und geht. "Pfiat eich!"

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Quelle:
SZ vom 07.04.2021
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