Süddeutsche Zeitung

Mitten in Schwabing:Schönes neues Leben

Plötzlich rührt sich wieder was, alles und jeder ist wieder da. Das Schönste ist: Man selbst ist auch Teil von dem Gewusel.

Glosse von Nicole Graner

In diesem Waffelbecher muss garantiert Schokoeis sein. Zumindest Nugat. Darauf: einige Toppings wie Streusel, Schokotropfen und Kokosraspel. Die junge Frau kann ihr Glück kaum fassen. Sie sitzt in einem Café an der Leopoldstraße! Draußen! Unter Menschen. Und weil alles so schön ist, macht sie Handyfotos. Sie und das Eis. Das Café und das Eis. Das Eis allein. Auf dem Tisch. In ihrer Hand. Das Gefühl, wieder am Leben teilzunehmen, ist so mächtig, dass die Mitteilung der Menschen über diesen Zustand wohl an Bedeutung gewinnt. Das Leben ist wieder schön! Und das sollen alle wissen.

Da ist zum Beispiel ein Fahrradfahrer, der ganz gemächlich den Radweg an der Leopoldstraße stadtauswärts fährt. Er spricht laut mit sich selbst. Nein, er telefoniert. Und während man ihn überholt, sind es Wortfetzen wie "Du, das Bier war so gut!", "Ja, genau, alles so frei!", "Und Menschen sehen." Später sieht man das Nachbarspärchen Hand in Hand in Richtung Luitpoldpark schlendern. Man winkt und bevor man überhaupt etwas sagen kann, sprudelt es aus beiden, im Wortlaut fast ähnlich, hervor: "Du, wir gehen in den Biergarten, ins Bamberger Haus. Sicher voll, gell? Egal. Es ist so schön!" Ja, im Luitpold-Park selbst ist es voll, so voll wie schon lange nicht mehr. Einst ein, vielleicht zwei Volleyball-Netze auf den Wiesen, sind es jetzt vier oder fünf. Es wimmelt vor Joggern, Kindern, die sich auf Gymnastik-Matten verbiegen, Gassigeher, die gut damit beschäftigt sind, ihre Hunde brav von Picknickdecken fern zu halten. Wow, das Leben boomt wieder. Aber wie! Und die Menschen plauschen, reden, plappern, telefonieren. Alle wollen sie das Glück der Freiheit mit anderen teilen.

Kann auch anstrengend sein. Wenn plötzlich Bekannte entgegen kommen. Ein großes Hallo, ein großes Erzählen. Ohne Punkt und Komma. Auch dem Nachbarsjungen, zum Beispiel, ist das Mitteilungsbedürfnis seiner Mitschüler offenbar zu viel. "Oma", sagt er, als er mit ihr telefoniert, "in der Schule ist es jetzt so laut. Alle schreien durcheinander, alle wollen erzählen!" Sagt es und ruft nur wenig leise: "Tschüss, Oma!"

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Quelle:
SZ vom 22.06.2021
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