Mitten in Schwabing:Gedanken, die an Kränen baumeln

Wenn rote Sterne am Himmel leuchten, denkt man erst ganz zuletzt an Bagger, Laster, Baugerüste

Von Nicole Graner

Die magische Torschranke ist zu. Kein Lastwagen fährt hinein, kein Bagger hinaus. Das Dröhnen und Wummern des Tages ist vorbei. Es ist still in der riesigen Grube, in der Menschen mit Schutzhelmen sonst Fundamente legen. Keiner brüllt von einem stählernen Ausguck Befehle in die Tiefe, aus der bald ein Gebäude emporwachsen soll. Das stete Surren der Kräne ist verstummt, die Nacht legt sich über die Baustelle "Schwabinger Tor" an der Leopoldstraße.

Und dann leuchten rote Sterne am Himmel. Wer vom Mittleren Ring kommt und die Leopoldstraße stadteinwärts fährt, sieht sie im Dunklen schweben. Rote Punkte. Irgendwo oben. Wie angeklebt. Dass es die Sicherheitsleuchten der acht Kräne der Baustelle sind, nimmt man erst spät wahr. Drei Leuchten an jedem der ewig langen Kranausleger, die tagsüber über die tiefe Grube schwingen und riesige, fertige Betonwände fliegen lassen, zeichnen ein ungewohntes Himmelsbild. Auf Kran Nummer drei entdeckt man am Ende - dort, wo große Gewichte den Ausleger beschweren und in Balance halten - ein Schild, das sonst nur unten auf den Straßen zu sehen ist: Einbahnstraße. Was der Kranführer damit ausdrücken will, wenn er tagsüber in seinem Häuschen sitzt und aus der Vogelperspektive das Werdende unten betrachtet? Dass es nur einen Weg ans Ziel gibt? Nur einen Weg ganz nach oben, über eine lange Leiter? Welchen Gedanken mag er nachhängen, wenn er nicht hoch konzentriert Bauteile über die Grube hebt und vorsichtig an anderer Stelle absetzt? Es muss ein erhebendes Gefühl sein, von oben alles sehen zu können. Dinge, die keiner wahrnimmt. Dinge, die passieren werden. Vielleicht aber sinniert der Mann auch über den Strom des Lebens nach, wenn er auf die Autodächer blickt, die sich wie kleine, glänzende Käfer im Stau langsam vorwärts bewegen; über die Zeit, die nur langsam verrinnt, wenn man dem Himmel ein Stückchen näher ist, und manchmal vielleicht auch über die Einsamkeit.

Doch jetzt hat sich die Nacht über alles gelegt. Die roten Sterne leuchten.

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