Süddeutsche Zeitung

Mitten in Schwabing:Ein Blick in Zukunft und Vergangenheit

Unterwegs auf dem alten Schulweg, wo man einst Himbeeren durch Zäune fischte, der ersten großen Liebe schmachtende Blicke zuwarf und bei den Löwen am Treppenaufgang zum Max-Gymnasium fürs Jahresfoto posierte

Kolumne von Nicole Graner

Vor Kurzem ist man ihn wieder gegangen, den alten Schulweg. Und die Erinnerungen purzeln sofort aus dem Off ins Jetzt. Wie oft hat man an jener Ecke in der Tristanstraße den letzten Feinschliff für die Schule vorgenommen: ein paar andere, modischere Schuhe angezogen zum Beispiel. Dann vorbei an dem schönen Haus an der Mottlstraße 1. Da lockten im Sommer stets die dicken Himbeeren hinter dem Zaun. Wenn man sich streckte, erreichte man die Zweige und pflückte sich eine süße Wegzehrung. Die Himbeersträucher gibt es übrigens heute noch. Weiter ging es an der Kirche Maria vom Guten Rat vorbei und durch das kleine Gässchen an der Heidelberger Straße am Zaun des Kindergartens. Früher sah man die Kleinen dort Sandburgen bauen, heute schützt sie ein Zaun vor Blicken.

Die Überquerung der viel befahrenen Rheinstraße zur Sulzbacher Straße erfordert heute wie damals Konzentration. Ach ja, die Sportanlage der Simmernschule. Da gab es an der Ecke doch ein Schlupfloch im Zaun, durch das man auf den Platz kam, ohne einen Schlüssel. Nichts geht da heute mehr! Der stabile Zaun ist unverrückbar. Und dieses eine Haus an der Mannheimer Straße. Da wohnte sie einst, die erste große Liebe. Die aber natürlich unerwidert blieb. Der Angebetete war zwei Klassen über einem und würdigte die am Zaun entlang Schmachtende keines Blickes.

Und dann zur Schule. Zum nicht geliebten Max-Gymnasium. Unter dem Tor, auf dem Romulus und Remus von der Wölfin gesäugt werden, ging es hindurch und über den Pausenhof hinauf links ins Max - später die eigenen Kinder rechts ins Oskar. Daran ist jetzt nicht zu denken. Beide Gymnasien werden generalsaniert. Der Pausenhof, in dem verbotene Schneeballschlachten obligatorisch waren, ist eine einzige große Baustelle, ein einziges großes Loch. Auf die Holzzäune haben Schüler Bilder gemalt.

Das Oskar ist schick mit weißen Stoffbahnen verhüllt, Künstler Christo hätte seine Freude daran gehabt. Wenngleich er bestimmt keine notdürftigen Türen in den Stoff geschnitten hätte. Hinter den Vorhängen: Gerüste, Baumaterial und Bauarbeiter. Den Platz, auf dem normalerweise aus Zipfelmützen Wasser fließt, gibt es nicht mehr. Alles vollgestellt mit Gerüstteilen und drei großen Betonsilos. Von da ab wird mit Rechtecken aus Metall die Fassade "verhüllt". Der Haupteingang des Max-Gymnasiums ist nicht zu sehen. Auch nicht die beiden Löwen, die stets am Treppenaufgang wachten - und immer auf die jährlichen Schulfotos mussten: Klasse fünf mit Löwe rechts. Klasse sechs mit Löwe in der Mitte, Klasse sieben mit Löwe links. Irgendwann werden sie da wieder zu sehen sein - nur frisch herausgeputzt.

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Quelle:
SZ vom 19.01.2021
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