Süddeutsche Zeitung

Mitten in Schwabing:Die Flucht aus der Pyramide

Vom spielerischen Versuch der eigenen Angst und einer Grabkammer zu entkommen

Kolumne von Nicole Graner

Die Kellertür ist zu. Gerade noch im Regen draußen, jetzt plötzlich in einer bislang unentdeckten ägyptischen Grabkammer des so jung gestorbenen Pharaos Tutenchamun. Spärliches Licht und überall Zeichnungen an den Wänden, Hieroglyphen. Vier Menschen tasten sich ganz vorsichtig vorwärts. Verirrte Touristen? Verschüttete Archäologen? Nein, nur Rätselbegeisterte. Eine Fußplatte sei lose, hat der Game-Watcher gesagt, und trete man aus Versehen auf sie, dann schlösse sich die Grabkammer für immer. Echt? Angst. Bloß nicht als letzter in den Raum! Quatsch. Das alles ist doch nur der Plot für die Geschichte im Escape Room: Die vier Menschen sind Grabräuber, aber nun sind sie gefangen und wollen nur eines: raus, und zwar in einer Stunde. Sonst ist die Luft verbraucht. Echt? Nö.

Ein Walkie-Talkie hält Kontakt zur Außenwelt, denn eine Dame flüstert hin und wieder ein paar Tipps zu. Wenn nötig. Das Wichtigste am Gerät: die Taschenlampe. Die braucht man, um in der Grabkammer Schriftzeichen zu entschlüsseln, nach Gottheiten mit Horusfalken Ausschau zu halten und in jeder Mauerritze aus Pappmaché - sei sie noch so klein - nach Hinweisen zu suchen. Ein Skelett gehört übrigens auch dazu. Ein echtes? Nö.

Nach anfänglicher Schüchternheit sind die vier im Spiel. Aber wie. Es wird geraten, geredet, diskutiert. Dinge werden hin- und hergeschoben, Zeichen enträtselt. Plötzlich eine leise Stimme aus dem Off: "Schaut euch den Totenkopf noch mal an!" Die Zeit rennt, und gefühlt wird die Luft immer dünner.

Was der Game-Watcher wohl so alles denken mag, wenn er die Ratenden auf dem Monitor sieht? Den Gesprächen lauscht, der Psychologie der Gruppe, dem Teamgeist nachspürt? Handgreiflich dürfe man nicht werden, hat der Spielleiter anfangs gesagt. Dann ist Game over. Das Inventar zerstören geht auch nicht. Aber die Vier im Grab gehören eher zu den Strukturierten. Sie spielen ihre Stärken aus, jeder auf seine Weise: Verstand, Geduld, Mut und Hartnäckigkeit. Dieses "Zusammen-Eins-Sein" macht großen Spaß. Und dann geht eine Tür auf. Und die nächste. Und noch eine. Die letzte führt, gerade noch rechtzeitig, in die Freiheit. Aus der Pyramide. Äh, Quatsch, aus Kellerräumen. Hier in Schwabing.

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Quelle:
SZ vom 24.05.2019
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