Süddeutsche Zeitung

Mitten in München:Staubwedeln in der Oper

Wie das so ist im Leben: Man entdeckt, dass die Haare der Genienengel in Sichtweite der Galerie im Nationaltheater weder gewaschen, noch gereinigt wurden. Und dann kommt einem Tante Z. mit ihrem Straußenfeder-Staubbesen in den Sinn

Kolumne Von Jutta Czeguhn

Unten singt sich Tosca die Seele aus dem Leib und wird gleich das Monster Scarpia erdolchen. Und man selbst denkt nur an das eine: Staub. Hier auf Platz 83, Galerie links, hat man einen Logenplatz, wenn es um die schönsten Staubfänger der Stadt geht, die eleganten Marmorengel seitlich der Bühne, die eigentlich Genien, heidnische antike Schutzgeister sind. Schon während der vergangenen Vorstellungen war man selbst in den wundervollsten Opernmomenten irgendwie abgelenkt. Ist das etwa Staub, der da auf dem edlen Engel-Genienhaar liegt? Hätte da nicht während der langen Monate des Lockdowns mal jemand drüber wischen können! Fast war man versucht, sich kühn über die Brüstung zu beugen, um mit dem Finger die Staubprobe zu nehmen.

Ein familiärer Tick, zurückzuführen auf ein frühkindliches Trauma. Stets war es ein unerträgliches Desaster, wenn Tante Z. zu Besuch kam. Mit schrillen Rufen echauffierte sie sich über die beiden Meerschweinchen, die im Foyer in einer Holzkiste überwintern durften. Der Kuchen war ihr zu fett, der Kaffee zu dünn, wir Kinder zu laut, Opas Zigarrenstumpen im Aschenbecher hygienisch gesehen der GAU. Die Mama ertrug die Heimsuchungen der Heiligen Putzinquisition mit Haltung. Doch irgendwann war auch für sie die rote Linie überschritten. Als die dreiste Z. ihren Straußenfeder-Staubbesen aus der Tantentasche zog, um mit ultimativer Demütigungsgeste über der Wohnzimmerschrankkante herumzufuchteln. Von gleich vier Verwandten wurde sie zum Haus hinauskomplimentiert.

Ausgerechnet im Hier und Jetzt in der Staatsoper ist man versucht, den bösen Geist von Tante Z. für einen kurzen Einsatz aus der Flasche zu lassen. Als paranormale Erscheinung würde sie hoch über dem Bühnengeschehen herumschwirren und, den Teleskop-Staubwedel zum Hexenbesen umfunktioniert, auf die Marmorengel zusausen, um dann mit unnachahmlicher Verbissenheit die weißen Häupter zu feudeln. Wahrscheinlich ist Tante Z. längst Reinigungskraft im Himmel - oder doch eher der Vorhölle.

Daher ist Vorsicht geboten; mit den Geistern, die man ruft, ist das halt so eine Sache. Am Ende schwirrt sie bis ans Ende aller Tage als Wischmopp-Phantom durchs Opernhaus. Und nimmt sich den 3,6-Tonnen- Kronleuchter über dem Zuschauerparkett vor. Was wohl nicht nötig wäre, denn glaubt man der Staatsoper, wird er einmal im Jahr heruntergelassen. Bestimmt haben sie alle 70 000 Teile im Sommer akkurat entstaubt - und darüber einfach die Engel vergessen.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2020
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