Süddeutsche Zeitung

Mitten in München:Lautlose Gefahr

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Augen auf im Verkehr - das war früher die Devise, und meist brummten die Autos auch, sodass man noch zur Seite springen konnte. Jetzt braucht man auch noch ein hochsensibles Gehör, denn viele Elektroautos sind lebensbedrohlich leise

Glosse Von Michael Morosow

Noch einen einzigen Schritt weiter, dann wäre die erste direkte Begegnung mit einem E-Auto böse ausgegangen. Man hat es nicht hören können, weil es so lautlos daherkam wie ein Segelboot. Kein Wumm, kein Brumm, kein Tätärä - leise wie der sanfte Wind rauschte es kurz vor der Kniescheibe vorbei. Puh, das war knapp. Augen auf im Straßenverkehr - den elterlichen Rat wird man zukünftig noch mehr beherzigen müssen, denn auf sein Hörvermögen kann man sich in Zeiten von Flüsterasphalt und Schweigeautos nicht mehr verlassen. Geräuschlose Autos sind eine sinnvolle Erfindung. Auf der anderen Seite will niemand still und leise unter die Räder kommen.

Damit Fußgänger und Radfahrer besser geschützt sind vor sich heimlich anschleichenden Fahrzeugen, müssen seit 1. Juli alle neu zugelassenen Elektroautos künstliche Geräusche erzeugen. Wie die Sounds klingen müssen, hat der Gesetzgeber aber nicht geregelt. Vorgeschrieben ist indes, dass der Ton des E-Autos dem eines Verbrenners gleicher Bauart ähneln muss. Damit ist ausgeschlossen, dass eine bullige PS-geschwängerte Limousine mit Vogelgezwitscher oder Blätterrascheln um die Ecke biegt, oder ein kleines Schnauferl wie ein Geschützknall. Was das Ohr dem Gehirn meldet, soll also auch vor den Augen erscheinen. Anders als früher, da ein alter Schulspezl ein Schiffshorn auf sein kleines Schnauferl montierte und damit schleichende Vordermänner schockte.

Jetzt also sind die Sound-Designer dieser Welt damit beschäftigt, künstliche Fahrgeräusche zu entwickeln, die zum einen Fußgänger warnen, zum anderen zur Automarke passen und 75 Dezibel nicht übersteigen. Für Tiefer-breiter-lauter-Fans, Ferraristi und andere PS-Protze wird da nichts Zufriedenstellendes herauskommen. Sie werden bei der Neuvertonung des Verkehrs klanglos auf der Strecke bleiben, denn welches künstliche Geräusch wird auch nur entfernt dem Röhren von Boliden nahekommen, die Stichflammen aus den Auspufföffnungen entlassen. Leider sind auch Musikstücke, abstrakte Sounds und Naturgeräusche nicht erlaubt. Dann sollte man aber auch E-Autos verbieten, die lautlos wie Segelboote um die Ecke biegen. Oder der Fahrer dreht wenigstens das Radio auf.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2021
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